“Freizeit, die man für alle opfert” – Nord-SPD will Rentenpunkte fürs Ehrenamt

Was hält eine Gesellschaft zusammen? Eine Antwort ganz sicher: ehrenamtliches Engagement. Doch gehen wir gut genug mit unseren Ehrenamtler*innen um? REVOLTE zu Besuch bei einem, der eine unkonventionelle Idee für mehr Respekt ins SPD-Programm verhandelt hat.

Dirk Diedrich hätte einmal fast für den SPD-Parteivorsitz kandidiert. Ehrenamtlich. 2018 war das, als es um die Nachfolge von Martin Schulz ging. Heute kandidiert er für den Kreistag im schleswig-holsteinischen Dithmarschen. Als er 2018 SPD-Chef werden wollte, berichtete die Heute Show, trotzdem kennen ihn außerhalb der SPD noch immer nur wenige. Dabei macht der leidenschaftliche Kommunalpolitiker nicht nur mit überraschenden Kandidaturen auf sich aufmerksam, auch für spektakuläre Vorschläge ist der SPD-Kreisvorsitzende zu haben: Auf dem letzten Landesparteitag beschloss die SPD Schleswig-Holstein auf Diedrichs Antrag hin nämlich, dass es zukünftig Rentenpunkte für ehrenamtliches Engagement geben soll. REVOLTE fragt: Wie ist er darauf gekommen?

Bis zu 20 Stunden in der Kommunalpolitik

“Ehrenamtliche Arbeit ist Arbeitszeit”, antwortet Dirk Diedrich im exklusiven Gespräch mit REVOLTE. Dirk Diedrich weiß das, denn er engagiert sich selbst seit vielen Jahren ehrenamtlich, vor allem in der Kommunalpolitik: “Politik frisst viel Zeit. Nicht nur die vielen Gremiensitzungen, sondern auch die Arbeit im Hintergrund. Neben meiner Funktion als Kreisvorsitzender bin ich auch noch stellvertretender Ortsvereinsvorsitzender und in der Stadtpolitik als Ratsherr gleichzeitig Ausschussvorsitzender und in vielen Beteiligungen vertreten. Das geht vom Abwasserzweckverband bishin zum Zweckverband Kindertagesstätten Heide-Umland.” Besonders belastend: Die Wochen sind sehr unterschiedlich. “In manchen Wochen sind es zwei oder drei Stunden, die für mein politisches Engagement draufgehen, aber es gibt auch Wochen, inklusive Wochenenden, da kommen noch mal 20 Stunden dazu.”

Dirk Diedrich weiß natürlich, dass nicht nur er sich ehrenamtlich engagiert, aber sein eigenes Engagement hat ihn natürlich für das Thema besonders sensibel gemacht. Und dafür, dass Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, dafür Anerkennung bekommen müssen.

Anerkennung für gesellschaftliche Arbeit

Ehrenamt – für ihn sei das “letztlich Freizeit, die man für alle opfert.” Oft erfordert das ja auch besondere Kraftanstrengungen, Dirk Diedrich hat dafür auch gleich ein Beispiel parat: “Wenn ich mit meiner normalen Arbeit Rentenpunkte anspare, damit ich, wenn ich irgendwann nicht mehr in der Lage bin zu arbeiten, ein Auskommen habe, dann muss es doch mit gleicher Münze zum Beispiel auch für freiwillige Feuerwehrleute gelten. Die haben auch viele Jahre ihre Zeit geopfert und das muss ihnen die Gesellschaft danken. In Form von Rentenpunkten.”

Rentenpunkte – die sammeln Erwerbstätige während ihres Berufslebens. Und aus der Anzahl der gesammelten Rentenpunkte ergibt sich unter anderem die Höhe der späteren Altersrente. Diedrich will also, dass sich Engagement heute AUCH durch mehr Geld im Alter lohnt.

Überzeugte die Genoss*innen am Redepult: Dirk Diedrich aus Dithmarschen.

So kam es also zu der Idee. Aber ist sie auch gut? Diedrichs Genoss*innen finden: ja! Und das kam so: Als der Landesparteitag der SPD Schleswig-Holstein Anfang des Jahres über die Stärkung des Ehrenamtes diskutieren wollte, sah Dirk Diedrich die Zeit für seine Idee gekommen: Er formulierte seinen Renten-Vorschlag aus, reichte ihn ein und ergriff auf dem Parteitag auch selbst das Wort. “Und zack: angenommen”, lacht Diedrich im Gespräch mit REVOLTE.

Kritik am Vorschlag gabs übrigens auch im Nachgang kaum – auch nicht dafür, dass die konkrete Ausgestaltung noch auf sich warten lässt. Klar ist nur, dass die Berechnung ähnlich wie bei der Erwerbsarbeit laufen soll. So wie es auch Initiativen gibt, die sich für Rentenpunkte für Carearbeit einsetzen. “Das Geld müssen wir politisch bereitstellen”, fordert der SPD-Politiker.

Der Arbeitsbegriff wandelt sich – das zeigt nicht nur dieser Antrag. Dachte man früher bei Arbeit bloß an die Erwerbsarbeit, also das, was man klassisch Job nennt, ist heute immer mehr auch die Bedeutung von Sorgearbeit und Ehrenamt präsent. Wichtig, weil es notwendige gesellschaftliche Veränderung anstößt: Über die Benachteiligung von allen, die nicht Männer sind und darum bis heute deutlich mehr unbezahlt arbeiten, nämlich die meiste Sorgearbeit leisten. Und darüber, was eine Gesellschaft zusammenhält. Stichwort: Ehrenamt.

Respekt: Ein gesellschaftliches Schwerpunktthema

Übrigens: Mehr ehrenamtliches Engagement erhofft sich Dirk Diedrich nicht von seinem Vorschlag, ihm geht es vor allem um Anerkennung für die bestehenden Ehrenamtlichen. Was es stattdessen bräuchte, um mehr Menschen fürs Ehrenamt zu gewinnen? “Transparenz. Neiddebatten müssen wir vermeiden. 20 Euro Sitzungsgeld sind zu wenig. Die Übungsleiterpauschalen für den Sport zu gering, und auch die Anerkennung oder die Ausfallleistungen für die Feuerwehr, DRK etc. Da geht mehr Wertschätzung.” Stimmt!

Auch weil viele Menschen “schwer enttäuscht vom Staat” seien, macht Dirk Diedrich klar: “Der Staat ist nicht auf Vertrauen zu seinen Bürgern aufgebaut, sondern auf Misstrauen. Alles muss man nachweisen, nichts bekommt man, ohne vorher die Bedürftigkeit nachzuweisen, oder sogar ganz die finanziellen Hosen herunterzulassen. Die Steuern arbeiten nach dem Misstrauensprinzip, man bezahlt erstmal irgendwas, und muss dann dem Staat nachweisen, dass man zu viel bezahlt hat.”

Ein weiteres Thema: Zeit. Die fehlt vielen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen, mahnt Dirk Diedrich. Aber auch “die Work-Life-Balance bekommt eine immer größere Bedeutung”. REVOLTE hat dieses Thema zuletzt in der Diskussion um die Vier-Tage-Woche bereits aufgegriffen.

Der Kampf gegen das Patriarchat und für Kindergrundsicherung, Bürger*innengeld sowie Grundrente – sozialer Fortschritt muss immer erkämpft und ständig verteidigt werden, während neoliberale Strukturen sich immerzu selbst zu verfestigen scheinen.

Das weiß auch Dirk Diedrich aus Dithmarschen.

Es bleibt also auch über die Rentenpunkte fürs Ehrenamt noch einiges zu tun für SPD-Politiker Dirk Diedrich aus Dithmarschen, der mit unkonventionellen Ideen für mehr Gerechtigkeit kämpft.


Geschrieben von: Technik Team

Technik Team