“Ich träume von einer Schule für alle Kinder” – Lehrerin Kazungu-Haß plant EXKLUSIV in REVOLTE Bildungsreform

Sie ließ den Landtag hinter sich und wurde Lehrerin: REVOLTE traf Giorgina Kazungu-Haß zum Interview über die Bedeutung von Noten, dem dreigliedrigen Schulsystem und die Weiterentwicklung von Schulfächern.

Ein Jahr, nachdem Giorgina Kazungu-Haß wieder in den Landtag gewählt wurde, traf die SPD-Politikerin aus Rheinland-Pfalz eine ungewöhnliche Entscheidung: Sie verzichtete auf ihr Mandat und kehrte in ihren eigentlichen Beruf zurück: Kazungu-Haß ist Lehrerin, arbeitet jetzt wieder an einer Schule.

Wer so eine Entscheidung trifft, brennt offensichtlich für das, was er tut. Und darum ist Giorgina Kazungu-Haß auch meinungsstark, wenn es um die Zukunft der Bildung geht. Darum hat REVOLTE sie zum Gespräch gebeten. Über ihre Leidenschaft für den Lehrberuf und darüber, was sich an deutschen Schulen ändern muss, gesprochen.

Und das ist so einige: Giorgina Kazungu-Haß fordert EXKLUSIV in REVOLTE das Ende des dreigliedrigen Schulsystems, die Weiterentwicklung aller Schulen zu inklusiven Bildungseinrichtungen, in denen alle Kinder gemeinsam lernen können und fächerübergreifenden Unterricht, der Schüler*innen im kreativen Denken und Problemlösen fördert.

Ein Gespräch mit einer Politiker, die einfach KEIN KIND ZURÜCKLASSEN kann:

Giorgina Kazungu-Haß, 2016 wurden Sie erstmals in den Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt. 2021 zogen Sie erneut ins Parlament ein. Doch nur ein Jahr später entschieden Sie: ‘Mir reicht’s!’ und gingen zurück in den Schuldienst. Wie kamen Sie zu dieser ungewöhnlichen Entscheidung?

Giorgina Kazungu Haß: “Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten. Zwei Jahre ohne regelmäßigen Schulbesuch während Corona haben mit den Kindern und Jugendlichen etwas gemacht. Ich habe überlegt, wie ich dafür am besten Verantwortung übernehmen kann. Ich konnte nicht mehr einfach nur darüber reden. Ich bin eine erfahrene Lehrkraft, war schon Konrektorin, als ich recht überraschend 2016 in den Landtag einzog. Ich bin dahin zurück, wo man mich im Moment am dringendsten benötigt. Zurück in meinen gelernten Beruf, zurück zu meinen Schülerinnen und Schülern.”

“Gebt den Schulen ordentliche Budgets!”

Giorgina Kazungu-Haß

Wo kann man denn mehr für gute Bildung bewirken: Im Plenarsaal oder im Klassenraum?

Man mag es mir ein wenig Nachsehen, aber ich tendiere zum Klassenraum. Natürlich im Schulterschluss mit den Schulleitungen und der Verwaltung. Der Plenarsaal ist ein wichtiger Ort der bildungspolitischen Auseinandersetzung. Im Moment geht es aber nicht um große neue Modelle und Ideen, es braucht einen klugen Einsatz der Ressource. Eine gute Bildungspolitikerin, sollte heute vor allem auch eine gute Finanzpolitikerin sein.

Wie meinen Sie das?

Es geht eben mehr ums Geld, Abgeordnete verhandeln Haushalte. Wer das nicht kann, holt zu wenig für sein Ressort raus. Und das braucht das System jetzt: Frisches Steuergeld.

Apropos: Saskia Esken, SPD-Chefin, fordert ein Sondervermögen für Bildung. Insbesondere in Infrastruktur soll investiert werden. Eine gute Idee?

Grundsätzlich ja. Wenn das Geld nicht wieder in irgendwelche zeitlich begrenzten Projekte fließt, die in Arbeitsgruppen erarbeitet werden, in denen quasi keine aktiven Lehrkräfte sitzen. Diese haben nämlich keine Zeit sich ständig öffentlich zu äußern, Bücher zu schreiben und fallen dadurch nicht auf. Es sind die immer gleichen Player, die das übernehmen. Das soll ihre Expertise nicht schmälern. Aber es braucht nicht die neue Idee, es gibt sie bereits: Gebt den Schulen ordentliche Budgets, um sich selbst zu verwalten, unterstützt Schulleitungen mit Verwaltungskräften, setzt in großen Systemen Geschäftsführungen im kaufmännischen Bereich ein und evaluiert die Ergebnisse der Arbeit regelmäßig von außen. Qualität steigern wäre das Stichwort.

“Ich komme nie in die Versuchung ein Kind aufzugeben!”

Giorgina Kazungu-Haß

Zurück zu Ihnen: Was macht eine gute Lehrerin aus, Giorgina Kazungu Haß?

Sie oder er darf vor allen Dingen sehr unterschiedlich sein. Es gibt nicht ‘DIE’ Lehrerin. Aber es gibt eine Haltung zum Kind, zum Jugendlichen und zwar die Annahme, dass jeder Mensch lernen möchte. Wenn ich das beherzige, dann komme ich nie in die Versuchung, ein Kind aufzugeben. Wir müssen dranbleiben, so simpel ist das.

Reden wir über Politik. Große Bildungsreformen in Deutschland sind selten. Auch weil Bildung Ländersache ist. Wie stehen Sie zum Bildungsföderalismus?

Da möchte ich widersprechen. Es gibt ja quasi ohne Pause ständig neue Reformen. Ich war selbst sehr aktiv in der großen Schulstrukturreform ab 2008 in Rheinland-Pfalz und bei mehreren Schulgründungen in den Planungsteams. Jetzt leite ich gerade das Planungsteam für eine neue Grundschule in Berlin-Lichtenberg, sie ist Teil der Berliner Schulbauoffensive. Alles sehr beeindruckend und wirklich auf dem neuesten Stand pädagogischer Erkenntnisse. Es gibt viel Willen und viel Mut, auch in der Politik.

Aber was es viel mehr braucht, ist ein gesellschaftlicher Wandel, der Schulen wieder als Zukunftshäuser versteht und Lehrende als deren Architekt*innen. Im Zentrum stehen unsere Kinder. Es kann dabei anfangen, dass es normal ist, dass man eine Politikerkarriere sausen lässt, um wieder im Team zu sein.

Föderalismus steht dem nicht als Widerspruch entgegen.

Reden wir über Ihre aktuelle Arbeit: Wie baut man eine neue Schule auf? Worauf achten Sie besonders?

Ich schaue mir aber den Kiez sehr genau an. So stelle ich dann auch das erste Jahrgangsteam zusammen, nach den Herausforderungen, die uns da begegnen. Der Praxistest kommt erst nach der Gründung, in den ersten Jahren ist deswegen Evaluierung noch wichtiger.

Werden wir grundsätzlich: Das deutsche Schulsystem ist sehr traditionsbewusst. Notensystem, Schulformen, Fächerauswahl: Vieles ist seit Jahrzehnten unverändert. Warum ist Schule in Deutschland so konservativ?

Das sehe ich so nicht. Die öffentlichen Diskussionen sind nur oft nicht auf der Höhe der Zeit. Die Schulgesetze der Länder lassen viel Gestaltungsmöglichkeiten. Zum Beispiel das Aufweichen von Fächergrenzen in übergeordnete Lernbereiche, ein bestimmtes Kontingent an Stunden zur Profilbildung, längere Notenfreiheit in den Grundschulen usw. Da ist so viel passiert. Umsetzen müsste man das jetzt mal. Das passiert schon oft, gerne mehr davon.

Sind klassische Schulnoten überhaupt noch das richtige Bewertungskriterium?

Kommt immer darauf an, wie transparent die Leistung bewertet wird. Wenn man mit verbalen Verurteilungen arbeitet, die völlig defizitorientiert den Lernstand beschreiben, kann ein “befriedigend” motivierender sein. Neue Aufgabenkultur und eine faire Bewertungslogik sind seit 20 Jahren intensiv diskutiert worden. Das ist ja nicht neu. Es muss gut und fair gemacht werden. Ziel ist immer der individuelle Lernerfolg der Schülerin oder des Schülers. Wer mit Noten bestrafen will, der hat meiner Meinung nach nicht begriffen, ich wiederhole mich, dass jeder Mensch lernen will. Bewertungen müssen lernfördernd wirken.

Und wie stehen Sie zu den Schulformen: Grundschule, Haupt-, Gesamt-, Realschule und Gymnasium? Gerade aus der SPD hört man ja immer wieder die Forderung nach einer gemeinsamen Schule für alle Kindern und langem gemeinsamen Lernen.

Ich komme ja aus dem System der Integrierten Gesamtschulen und arbeite jetzt in Berlin an einer Grundschule. Meine Tendenz ist klar. Aber wir wissen auch, dass die Schulformdebatte noch keine guten Schulen macht. Gesellschaftlich allerdings halte ich überhaupt nichts vom Separieren junger Menschen in ein dreigliedriges System.

Haben Förderschulen eine Zukunft in Deutschland oder muss Inklusion zukünftig immer an Regelschulen gelingen?

Ich habe mal an einer Schule gearbeitet, die inkludiert hat, aber für Kinder, die besonders viel Fürsorge brauchten, eine Werkstattklasse hatte. Es gab aber auch gemeinsame Stunden mit den Kindern der Regelklasse. Ich träume von einer Schule, die so ausgestattet ist, dass wirklich alle Kinder dorthin gehen können. Das ist sehr aufwändig und teuer, da es Therapieräume geben muss, das entsprechende Personal usw. So lange das nicht funktioniert, wird eine Inklusion zu 100 Prozent schwierig. Und ja, das ist ein bildungspolitisches Versäumnis.

Giorgina Kazungu-Haß: Wir brauchen mehr niedrigschwellige Zugänge zu Bildungsangeboten

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Hans-Peter Meidinger, fordert mindestens an den Grundschulen eine Fächerreform: Dem Deutschunterricht soll alles untergeordnet werden. Stimmen Sie ihm zu?

Ich verstehe Herrn Kollegen Meidinger nicht. Das ist doch längst so. In Berlin sind im ersten Schuljahr ein Drittel der Stunden Deutschstunden und das bleibt auch konstant bis zur 5. Klasse. Leseförderung muss davon abgesehen in allen Fächern stattfinden. Aber eben auch nicht nur in der Schule. Wenn schon nicht mehr die Eltern lesen, warum dann die Kinder? Niedrigschwellige Zugänge zu Bibliotheken als nicht-kommerzielle dritter Orte sind da ein Stichwort, das gelingt in den angelsächsischen Ländern sehr viel besser. Es gibt mittlerweile großartige neue Bibliotheken in Deutschland, da müssen wir zum Beispiel weiterdenken.

Ist das Fächerangebot in Deutschland Ihrer Meinung nach noch angemessen? Oder braucht es nicht neue Schwerpunkte: Zum Beispiel im Bereich der Medienkompetenz?

Ich bin ja für mehr Lernen und nicht für mehr Fächer. Dieser unbedingte Wille, alles in vier, fünf oder sieben Fächer zu gießen, bremst uns so aus. So lernen wir ja als Erwachsene auch nicht mehr. Wir wollen zum Beispiel ein Haus bauen. Dazu müssen wir verhandeln, lernen, einen Bauplan lesen, sehr viel kalkulieren, uns mit Materialien auseinandersetzen und oft auch noch selber anpacken. Also unter diesem Stichwort ‘Hausbau’ vereinen sich ganz viele Kompetenzen. Und so sollten wir auch lernen. Dazu müssten sich die Lehrerinnen und Lehrer der verschiedenen Professionen zusammensetzen und gemeinsam überlegen. Zum Beispiel könnten sie sich entschließen, unter dem Thema ‘Frühling’ fächerübergreifend zu arbeiten. Und plötzlich ergeben die Lerninseln der einzelnen Fächer für die Kinder ein ganzes Land der Erfahrungen. Digitales Arbeiten ist eine Selbstverständlichkeit, auch eine seltsame Denkweise, das aus der Schule heraushalten zu können. Wir sind ja kein Raumschiff.

An Schulen gibt es Mitbestimmung – zumindest am konkreten Schulalltag können Schüler*innen-, Eltern- und Lehrendenvertreter*innen beispielsweise in Schulkonferenzen mitwirken. Ein bewährtes System?

Ja. So konkret wie möglich sollte die Beteiligung sein. Nur der Katzentisch bei der Gesamtkonferenz ist keine Beteiligung.

Könnten Schüler*innen, ihre Eltern und Lehrer*innen auch in der Bildungspolitik, beispielsweise bei grundlegenden Reformen, noch stärker eingebunden werden?

Das passiert ja über die verschiedenen Gremien und Verbände sehr stark auf der Ebene der äußeren Schulentwicklung. Mehr einbinden muss man alle Gruppen bei der internen Schulentwicklung vor Ort. Aber das braucht viel Zeit. Daran mangelt es leider.

“Lehrer*innen sind für mich Held*innen!”

Giorgina Kazungu-Haß

Werden wir zum Abschluss noch einmal pragmatisch. Sie haben 2021 Ihr Berufspolitikerinnenleben aufgebenen und sind in den Schuldienst zurückgekehrt. Das macht sie besonders, denn im allgemeinen entscheiden sich gerade immer weniger Leute für den Lehrberuf. Woran liegt das?

Am Geld sicher nicht. Wir werden vor allem als Beamte sehr fair bezahlt. Ich kann nicht für alle sprechen, aber ich wünsche mir mehr Vertrauen in unsere Professionalität. Ich pflege einen sehr vertrauensvollen Umgang mit der Elternschaft. Wenn ich manchmal auf Twitter so mitlese allerdings, macht es mich traurig, wie Kolleg*innen an den digitalen Pranger gestellt werden. Kenne nur wenige Berufsgruppen, die ähnliches erleben müssen. Wer das von außen sieht, der könnte auf die Idee kommen, es lieber sein zu lassen.

Wie stehen Sie zu Quereinsteiger*innen im Lehrberuf?

Mutige und starke Menschen, die sich oft erst in der Mitte des Lebens aufmachen, in unser Team zu kommen. Das sind für mich Held*innen! Aber sie brauchen Unterstützung und das muss auch organisiert werden. Da ist noch Luft nach oben!

Und wie kann die Politik den Schulberuf langfristig wieder attraktiv machen?

Einfach nicht jede Woche eine neue Sau durchs Dorf treiben, wäre ein Anfang. Und sich öfter mal hinter die Kolleg*innen stellen, wäre auch mehr als nur Symbolik.


Geschrieben von: Technik Team

Technik Team