
Wohnungslose Menschen verklagt die Bahn. Fahrgäste, die sich kein Ticket leisten können, kommen in den Knast. Uns Steuerzahler*innen kostet das bares Geld.
Paul-Viktor ist 32 Jahre alt und lebt am Hamburger Hauptbahnhof.
Wie das kam? So: “Sein Vater war alkohol- und drogenabhängig und verprügelte den Angeklagten. Infolgedessen fiel der Angeklagte in der Schule durch schwere Verhaltensstörungen auf. Deshalb wurde er auf eine Schule für schwererziehbare Kinder und Jugendliche umgeschult.”
Er kam ins Heim, verließ die Schule ohne Abschluss, wurde psychisch krank, alkohol- und drogenabhängig. “Schon früh hatte der Angeklagte das Gefühl, dass man ihn abgeschrieben habe, und in der Folge war ihm schlicht alles egal.”
Der Angeklagte? Ja. Die Bahn hat Paul-Viktor angezeigt. Mehrfach. Weil er Passant*innen am Hauptbahnhof um Geld gebeten hat und weil er im Bahnhof übernachtete. 84 Mal. Denn Paul-Viktor ist wohnungslos.
Die Zitate stammen aus dem entsprechenden Urteil. Paul-Viktor bekam eine Geldstrafe, ein mittlerer dreistelliger Betrag. Für einen wohnungslosen Menschen kaum stemmbar. “Zahlbar in Raten” heißt es dazu ziemlich zynisch im Urteilstext.
Bahn verklagt systematisch arme Menschen
Der Fall von Paul-Viktor ist kein Einzelfall. Wir alle sind schon an Bahnhöfen von Menschen in Not angesprochen und nach Kleingeld gefragt worden. Wir alle haben schon Menschen am Bahnhof schlafen sehen.
Und sicher: Nicht alle Menschen, die am Bahnhof nach Geld fragen, sind tatsächlich in Not. Aber alle Menschen in Not, die aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit am Bahnhof übernachten, werden von der Bahn verklagt. Wegen Hausfriedensbruchs.
Genauso wie die Bahn Menschen anzeigt, die ohne Fahrschein fahren und die Strafen dafür nicht zahlen können. Tausende Menschen landen jedes Jahr im Gefängnis, weil sie sich kein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr leisten konnten. Bis zu ein Jahr sitzen die Leute in Haft. Die Betroffenen sind überwiegend arbeitslos, wie Paul-Viktor ohne festen Wohnsitz und oft auch suizidgefährdet.
Die Initiative “Freiheitsfonds” kauft Menschen, die wegen Fahren ohne Fahrschein verurteilt worden sind, aus dem Gefängnis frei. Fast 800 Menschen hat sie zusammengerechnet 150 Haftjahre erspart, 719.000€ hat das gekostet.
Das Absurde: Verfahren wie das gegen Paul-Viktor oder gegen Menschen, die sich kein Bahnticket leisten können, kosten uns Steuerzahler*innen viel Geld. Mehr noch aber kostet ihre Inhaftierung. Beispiel Freiheitsfonds: Dass die Initiative fast 800 Menschen freigekauft hat, hat dem Staat 11,6 Millionen Euro erspart.
Klassismus kostet reiche Leute bares Geld
All das zeigt: Unser Justizsystem ist klassistisch. Und das aus Prinzip. Denn die Strafverfolgung von Paul-Viktor bringt doch niemanden etwas. Genauso wie es nichts bringt, Menschen einzusperren, weil sie sich keine Fahrkarte kaufen können. Mobilität ist immerhin ein Grundrecht.
Immerhin will die Ampel das Fahren ohne Fahrschein bald aus dem Strafgesetzbuch streichen, dann müsste niemand ohne Ticket mehr in den Knast.
Besonders bitter: All diese Prozesse sind staatlich gewollt. Die Bahn ist ein Staatsunternehmen, gehört also uns allen. Die Bahnhöfe auch. Und in unseren Häusern sollten wir zur Not ja wohl auch alle schlafen dürfen. Doch die Realtität ist Staatsklassismus.
Übrigens: Falls jemand denkt, ihn betreffe das schon nicht. Noch ein Beispiel: Bei Herzstillständen im öffentlichen Raum hat Deutschland mit 11% eine der niedrigsten Reanimationsquoten in ganz Europa. Zum einen, weil zu wenig Leute regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse besuchen. Zum anderen aber auch, weil in öffentlicher Infrastruktur zu wenig Defibrillatoren zur Verfügung stehen. In Zügen zum Beispiel lange gar nicht. Überall in Europa ist das anders. Die Bahn spart also an unser aller Sicherheit. Der Haken: Je Wohlhabender jemand ist, desto seltener erkrankt er an Herzinfarkten.
Grundsätzlich gilt: Die Entscheidung, Menschlichkeit anstelle des Klassismus-Prinzips zu stellen, könnte also jederzeit getroffen werden.
Paul-Viktor würde das allein nicht helfen. Er ist auf gute Sozialarbeit an Bahnhöfen angewiesen, gut ausgestatte, sichere Notunterkünfte und niedrigschwellige psychologische Betreuung angewiesen.
Ein Land, das es sich leisten kann, Menschen aus Prinzip einzusperren, sollte sich das aber ja erst recht leisten können.
Und ein Staatskonzern wie die Bahn sollte das auch möglich machen.