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Ein Essay über die revolutionäre Kraft von Poesie
Die Welt macht mich traurig. Wütend. Machtlos. Ich werde müde, wenn Debatten wie die um das Z*Schnitzel wieder aufkommen, während sich die Welt in Richtung einer autoritären Gleichgültigkeit bewegt, die mir Angst macht. Was kann ich dagegen tun? Nichts. Manchmal denke ich, es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich klein zu machen, starr zu werden. Zu akzeptieren, dass ich keine Handlungsmacht habe. Doch was mir hilft, sind Gedichte. Von Wanda Coleman, Audre Lorde, bell hooks, Semra Ertan und so vielen anderen.
Poesie als revolutionäre Kraft
In ihrem Essay Poetry is not a luxury (1984) schreibt die Autorin und Aktivistin Audre Lorde genau darüber: dass Poesie kein Luxus ist, sondern “a revelatory distillation”(ein aufschlussreiches Werkzeug). Gedichte entstehen aus Verzweiflung, aus Zuständen der Unterdrückung, aus Enge. Dichten ist Widerstand. Es bedeutet, Wut zu Papier zu bringen. Und Worte haben das Potenzial, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern, indem sie zu Handlungen werden. Poesie bringt uns neue Einsichten. Utopien können gesponnen, Träume formuliert werden. Wie sonst könnte eine andere Welt geschaffen werden? “[Poetry is] a bridge across our fears of what has never been before.” Vers für Vers nähern wir uns der Essenz unserer Gefühle, Wünsche, Sehnsüchte und Schmerzen. Wir lernen, woher wir kommen und wohin wir gehen wollen.
Poesie verbindet
Meine Schwester hat mich zu Gedichten geführt. Dieses Jahr hat sie ihren ersten eigenen Gedichtband veröffentlicht. Ein kleines Büchlein mit ihren Gedanken, wie sie ihn nennt, und Linoldrucken. Die Gedichte lassen in ihr Gemüt blicken und manchmal erkennt man sie direkt durch ihre Gedichte hindurch, manchmal hätte ich ihre Gedichte nicht als ihre zuordnen können.
Eine Zeichnung jedoch erkenne ich direkt: Unser Opa im Schatten auf seiner Stammbank. Das Gedicht über den Apfelbaum, der bis letztes Jahr im Garten unsere Kindheit stand, verbinde ich sofort mit meiner Schwester. Wie verbunden ich mich mit ihr fühle, wenn wir zusammen Gedichte schreiben und sie mir ihre Gedanken vorliest. Schreiben verbindet.
Wanda Colemans Sprache der Befreiung
Die Poetin Wanda Coleman hat meine Sicht auf die Poesie grundlegend verändert. Lyrik habe ich mit Schulzeit verbunden und mit strengen Analysen von Reimstruktur und Metrum, welche für mich den Gedichten jegliches Leben nahmen. Wanda Coleman zeigte mir, was Gedichte auch bedeuten können: Freiheit. In einem Interview aus dem Jahr 1991 wird sie mit folgenden Worten zitiert: “I want freedom when I write, I want the freedom to use any kind of language – whatever I feel is appropriate to get the point across”. Coleman schrieb direkt, ungeschönt und zerschmetternd. Sie wurde von einigen Kolleg*innen als wütend wahrgenommen, und diese Wut lässt sich in ihren Gedichten nachlesen. In Wanda why aren’t you dead wird sie mit Fragen und Kommentaren bombardiert:
“wanda when are you gonna wear your hair down
wanda. Thats a whore’s name
wanda why ain’t you rich
wanda you know no man in his right mind want a ready-made family
why dont you lose weight”
Um dann zu fragen: “wanda why are you so angry” – dabei scheint die Antwort bereits gegeben.
In dem Gedicht Giving birth schreibt Coleman über Rassismus:
“(out of three hundred deliveries this year ours is the third legitimate, says doc ‘it’s what they
are doing to the black community’)”
Über die ungeschönte Realität ihrer Schwangerschaft:
“against bone. rubbing. pressure against bladder / i pee and pee and pee”
Und über ihre Sorgen:
“Will he be there when it’s time?”
Ehrlichkeit als poetisches Prinzip
Wanda Colemans Gedichte sind ehrlich, sie benennen Dinge so, wie sie sind. Auch wenn das bedeutet, düster zu werden und Gewalt, Brutalität oder Ausweglosigkeit zu thematisieren. Ihre Gedichte lehren mich, das Gleiche zu tun: ohne auf Regeln zu achten, das zu schreiben, was benannt werden muss. Ohne über Tonfall, Rhythmus oder Struktur nachzudenken. Das Gefühl loszulassen, dass ich erst schreiben kann, wenn ich die Logik der schönen Dichtung verstanden habe.
Denn bis ich das herausgefunden habe, könnte es schon zu spät sein.
Die Dringlichkeit des Sprechens
Audre Lorde erkrankte an Krebs, worauf sie in einigen ihrer Texte einging. In The Transformation of Silence into Language and Action (1984) erklärt sie, wie ihre Krankheit und die Konfrontation mit ihrer eigenen Sterblichkeit ihren Blick auf ihr Schweigen verändert haben.
Gründe, die sie zuvor vom Schreiben abgehalten hatten – wie das Fehlen der richtigen Worte, eine bessere Vorbereitung oder der passende Moment – verloren ihre Macht. Audre Lorde kam zu der Erkenntnis: “My silences had not protected me.”
Und zu der Ansage an uns alle: “Your silence will not protect you.”
Poesie ist Überlebensstrategie, Widerstand und Hoffnung zugleich. Wir sollten dieses Werkzeug nutzen. Und jetzt ist ein guter Zeitpunkt!