
Foto von Wayra auf Unsplash
In Deutschland machen Menschen mit Migrationsgeschichte 12% der Wahlberechtigten aus. Aber sie gehen seltener wählen und fühlen sich weniger von Parteien angesprochen. Woran liegt das?
Laut einer Studie des Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, die zwischen Dezember 2023 und März 2024 durchgeführt wurde, liegt die Wahlbeteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichte deutlich unter der des Rests der Bevölkerung. Ganze 2.689 Personen wurden für die Studie befragt, darunter 248 Zugewanderte, 393 Kinder von Zugewanderten und 2.048 Personen ohne Migrationshintergrund.
Die Ergebnisse sind eindeutig: Viele haben kein Vertrauen in Parteien, sehen ihre Sorgen nicht repräsentiert – oder werden einfach nicht angesprochen.
Am 24.1. wurden die Ergebnisse der Studie in einer Pressekonferenz vorgestellt. Dr. Friederike Römer (DeZIM) diskutierte sie mit dem Migrationsforscher apl. Prof. Dr. Jannis Panagiotidis und Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung.
“Die Wahlbevölkerung mit Migrationshintergrund wird in Zukunft wachsen. Es muss noch viel getan werden, um diese Gruppen besser am politischen Willensbildungsprozess teilhaben zu lassen”, so Römer. Doch bisher schaffen die Parteien es nicht, viele der wahlberechtigten Migrant*innen zu erreichen. Sozialpolitische Themen müssen also gestärkt werden! Aber die Realität sieht anders aus: Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, unbezahlbare Mieten und rassistische Polizeikontrollen gehören für viele zum Alltag – doch kaum eine Partei befasst sich ernsthaft mit diesen Problemen.
Welche Parteien sind besonders beliebt – und welche nicht?
Die Befragten der Studie sollten angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie verschiedene Parteien wählen würden. Das Ergebnis zeigt: Die SPD ist bei allen Gruppen die beliebteste.
Trotz massiver Hetze gegenüber Migrant*innen schneidet die AfD in allen Gruppen zwar am schlechtesten ab, kommt aber trotzdem auf ungefähr 20%. Bei den postsowjetischen Befragten sogar auf 29,2%! Die CDU/ CSU, die kürzlich ihren fremdenfeindlichen 5-Punkte-Plan im Bundestag mit Hilfe der AfD durchdrückte, holt sich sogar/ganze 68,7% in dieser Gruppe.
Im Gegensatz dazu sind das Bündnis Sarah Wagenknecht und die Linke besonders beliebt bei Menschen mit Wurzeln in der Türkei, dem Nahen Osten und Nordafrika.
Misstrauen, Angst vor Rechtsextremismus und wirtschaftliche Unsicherheit
Was beschäftigt Menschen mit Migrationsgeschichte? Wovor haben sie Angst? Die Antwort: Inflation, soziale Spaltung und Klimawandel. Ein Punkt fällt besonders auf: 14,4% der Befragten mit türkischer, nahöstlicher oder nordafrikanischer Herkunft nannten Rechtsextremismus als größte Sorge. Bei den postsowjetischen Befragten waren es nur 4,7%.
Viele trauen den Parteien nicht zu, ihre Probleme lösen zu können. Dabei spielen fehlendes Vertrauen in das politische System, Mangel an Informationen oder Diskriminierungserfahrungen eine Rolle.
“Für mich war entscheidend: Welche Partei akzeptiert mich und nimmt mich wahr?”, berichtet der Wissenschaftler Ulusoy. “In den 2000ern war das für uns zentral. Heute, in der dritten Generation, verändern sich diese Vorstellungen.”
Opfer oder Täter? Gesellschaftliche Vorurteile und Realität
Ein anderes wichtiges Ergebnis: Menschen mit Migrationsgeschichte sorgen sich häufiger um ihre finanzielle Zukunft. 63,4% der Befragten mit Migrationshintergrund gaben an, dass sie sich um ihre wirtschaftliche Situation sorgen. Bei den Befragten ohne Migrationshintergrund waren es nur 46,7%.
Auch Wohnsituation, Altersvorsorge und Kriminalität beschäftigen sie häufig. Besonders bemerkenswert ist das verzerrte Bild in der öffentlichen Debatte: Während Migrant*innen oft als Kriminelle dargestellt werden, haben sie selbst Angst, Opfer von Straftaten zu werden.
Die Studie zeigt klar: Die Politik tut nicht genug, um diese Gruppen und deren Anliegen ernsthaft zu vertreten. Ein wachsender Teil der Gesellschaft bleibt dadurch unsichtbar – ganz zu schweigen von den Millionen Migrant*innen, die nicht einmal wahlberechtigt sind. Etwa 14% der Erwachsenen in Deutschland, also etwa 10 Millionen Menschen, dürfen nicht an der Bundestagswahl teilnehmen. Das sind ungefähr 60% der Erwachsenen mit Migrationshintergrund.
Mein Vater beispielsweise lebt seit über 30 Jahren in Deutschland. Er arbeitet, zahlt Steuern und bringt sich durch ehrenamtliche Arbeit in die Gesellschaft ein. Trotzdem darf er nicht an der Bundestagswahl teilnehmen, obwohl politische Entscheidungen und öffentliche Debatten seinen Alltag beeinflussen.