Kein Unfall – Die Festung Europa fordert Menschenleben: Jeden Tag

Eine Woche nach der Katastrophe im Mittelmeer steht fest: nur etwa 100 Menschen konnten gerettet werden, die restlichen 650 sind entweder tot oder vermisst. Schuld daran ist vor allem ein Akteur: Die Europäische Union.

Am Abend des 13. Juni wird ein Hilferuf von einem völlig überfüllten Boot gesendet, kurz darauf ist die Griechische Küstenwache vor Ort. Trotzdem sinkt das Boot mit über 700 Geflüchteten an Bord. Was ist passiert?

Nachdem das Boot am 9. Juni in Libyen gestartet ist, fällt der Motor immer wieder aus, die Lage an Bord spitzt sich zu. Es gibt kaum Trinkwasser, keiner der Geflüchteten trägt eine Schwimmweste, langsam macht sich Panik breit. Dann wird die Griechische Küstenwache auf das Boot aufmerksam und ist kurz danach auch vor Ort. Kurzzeitig scheint es Hoffnung auf Rettung zu geben, doch dann kippt das Boot auf die Seite und sinkt. Die Version der Griechischen Küstenwache ist folgende: über Funk sei Hilfe angeboten worden, die aber abgelehnt worden sei, angeblich habe das Boot nach Italien fahren wollen und seinen Kurs fortgesetzt. In der Nacht habe sich die Griechische Küstenwache mit einem Schiff dem überfüllten Boot genähert, da sei es schon gekentert gewesen und die Küstenwache habe dann eine Rettungsaktion eingeleitet. Doch die Fakten sprechen gegen diese Version der Geschichte: Gab es ein menschenrechtswidriges Pushback durch die Griechische Küstenwache?

Die Rechtsbrüche an den EU-Grenzen

Ein Pushback ist das unrechtmäßige Zurückweisen fliehender Menschen an den Landesgrenzen, aber auch auf dem Wasser. Konkret sollen diese Menschen daran gehindert werden, einen Asylantrag zu stellen, somit ist ein Pushback ein Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention. Zehn Personen, die an Bord waren, berichten unabhängig voneinander, dass die Griechische Küstenwache mittels eines Seils versucht hat, das Boot in italienische Gewässer zurückzuziehen, und zwar ganze dreimal. Dabei ist die Katastrophe dann passiert, das Boot kippte auf die Seite und sank schließlich – über der tiefsten Stelle des Mittelmeers. Nach Recherchen der BBC steht fest, dass sich das Boot bereits mehrere Stunden nicht mehr bewegt hat, was einen krassen Widerspruch zur Version der Küstenwache darstellt, die ja behauptet, das Boot habe ihre Hilfe abgelehnt. Hat die Griechische Küstenwache hier also einen Bruch der Menschenrechte begangen und den Tod hunderter Menschen auf dem Gewissen?

Falscher Fokus

Die mediale Berichterstattung über die Katastrophe ist ein Graus: Es wird hier von einem “Bootsunglück” gesprochen, dabei ist hier kein Unglück geschehen, sondern fahrlässige Tötung. Es sind ganz konkret Menschen verantwortlich dafür, dass hier hunderte Menschen ertrunken sind. Und die Schuld liegt auch nicht bei den sogenannten Schleppern, die medienwirksam festgenommen wurden. Als Schlepper wird man in Europa nämlich auch verurteilt, wenn man ein Boot gelenkt oder gar nur ein paar Flaschen Wasser verteilt hat. Dieser Fokus auf die vermeintlichen Schlepper soll nur von den eigentlichen Verantwortlichen ablenken:  der Europäischen Union. 

Denn die Festung Europa hat ihre Grenzen auf eine so perfide Art und Weise gesichert, dass sie sich nicht selbst die Hände schmutzig machen muss. Sei es die Zusammenarbeit mit libyschen Milizen (der sogenannten libyschen Küstenwache), welche illegale Pushbacks durchführen, Gefangenenlagern, in denen Geflüchtete misshandelt und vergewaltigt werden, um sie von einer Überfahrt nach Europa abzuhalten, oder das jährlich steigende Budget der Grenzschutzorganisation Frontex, um unsere Grenzen noch besser vor denjenigen zu schützen, die eigentlich am Meisten Schutz bedürfen: Menschen, die vor Krieg, Elend und Hunger fliehen mussten. Die sich in ein wackliges und kaputtes Boot begeben, weil das Mittelmeer, die tödlichste Grenze der Welt, immer noch sicherer ist als der Ort, aus dem sie kommen.

Am heutigen Weltgeflüchtetentag gedenken wir all den Menschen, die durch die Festung Europa ihr Leben verloren haben. Die an der Grenze erschossen wurden, im Mittelmeer ertrunken oder in Lagern verhungert sind. Die von Faschist*innen ermordet wurden, von Frontex verfolgt wurden oder verschleppt und versklavt worden sind. Die Festung Europa tötet, jeden Tag.


Geschrieben von: Carla von Frieling

Carla von Frieling

Carla ist Aktivistin bei der Seebrücke und beschäftigt sich gerade mit Asyl- und Aufenthaltsrecht. Für REVOLTE schreibt sie über Seenotrettung, Bleiberecht und Rechtsradikalismus. Kontakt: @carla.vf auf Instagram