Der Kanzlerkandidat der Union ist nicht für seine zahme Sprache bekannt. Seine neueren Vorschläge zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts übertreffen jedoch vieles, was er bereits zuvor in den Raum stellte. Dafür erntet er Kritik – aber auch Zuspruch von den rechten Scharfmacher*innen.
Die Lehren aus dem Dritten Reich
“Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.” So besagt es Artikel 16 des Grundgesetzes. Dieser ist eine Konsequenz aus den Gräueltaten der Nationalsozialisten, die während ihrer Unrechtsherrschaft unliebsame Kritiker*innen, jüdische Menschen und andere aus politischen Gründen ausbürgerten. Viele von ihnen wurden staatenlos und damit quasi vogelfrei.
Das Grundgesetz – mit seinen Lehren aus den Fehlern der Weimarer Republik und als Schutzwall gegen die Erfahrungen der faschistischen Willkürherrschaft im Dritten Reich – ist randvoll mit Paragrafen, die als Schutz vor staatlich angeordneten Verbrechen gedacht sind. Deshalb ist es heute auch fast unmöglich, die Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Zwar kann die deutsche Staatsbürgerschaft auch gegen den Willen des Betroffenen entzogen werden, jedoch sind die Hürden sehr hoch – aus gutem Grund. In der Regel finden Ausbürgerungen daher ausschließlich auf den ausdrücklichen Willen des Betroffenen statt, z.B. weil dieser die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes beantragt hat, welches keine doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt. Ein unfreiwilliger Entzug wäre ein politisches Erdbeben und ein deutlicher Schritt nach rechts im Staatsbürgerschaftsrecht.
Eine furchtbare Entgleisung
Friedrich Merz‘ Vorstoß ist also ein Tabubruch: Selbst in der AfD haben es führende Parteimitglieder nie gewagt, die Ausbürgerung deutscher Staatsbürger*innen offen ins Spiel zu bringen. Friedrich Merz tut dies nun. In einem Interview mit der WELT kündigte er an, dass er in einer neuen Regierung Straftäter*innen die Staatsangehörigkeit entziehen will.
Unterstützung erhält er zum einen aus der eigenen Partei. So bekräftigte Jens Spahn (CDU-Fraktionsvize im Bundestag) den Vorschlag des Kanzlerkandidaten in einer zurückliegenden Ausgabe von hart aber fair am 13.01.2025. Er bezeichnete die Grünen als “Migrationsleugner” und setzte kritische Stimmen, damit sprachlich mit Corona-Leugner*innen gleich. Rechtssichere und stichhaltige Antworten auf wichtige Fragen zur angestrebten Reform gab er jedoch nicht.
Als sich ein queerer, deutsch-iranischer Anwalt im Publikum besorgt äußert, was der Entzug seiner deutschen Staatsangehörigkeit für ihn bedeutet, entgegnet Spahn, dass er ja auch die iranische Staatsbürgerschaft hätte und somit nicht staatenlos würde. Konfrontiert mit der Widerrede einer Fachanwältin für Migrationsrecht, Nahla Osman, dass so eine Zwei-Klassen-Staatsbürgerschaft entsteht, zeigt sich Spahn unbeeindruckt. Dass mit einer solchen Reform alle, die mehr als eine Staatsbürgerschaft besitzen, nur Deutsche auf Widerruf wären – egal ob sie in Deutschland geboren und aufgewachsen, mit ihren Eltern zugewandert oder geflohen sind, winkt er ab.
Aber so wäre es tatsächlich: Folgt man dem Vorschlag von Merz, so würden Menschen nur mit deutscher Staatsbürgerschaft und Menschen mit einer zweiten Staatsbürgerschaft bei Straffälligkeit unterschiedlich bestraft. Während Menschen mit lediglich deutscher Staatsangehörigkeit maximal die Strafverfolgung droht, müssten Doppelstaatler*innen neben der Strafverfolgung auch den Entzug der Staatsbürgerschaft fürchten, eine Doppelbestrafung also. Damit wären selbst Kinder, die nie auch nur einen Fuß in das Heimatland ihrer Eltern gesetzt haben, deren Muttersprache nicht sprechen und keinen kulturellen oder sozialen Bezug zu diesem Land haben, nur Deutsche bis auf weiteres. Kindern, deren Eltern keine zweite Staatsbürgerschaft besitzen, droht der Entzug der Staatsangehörigkeit nicht.
Eine Nebelkerze und 1.000 ungeklärte Fragen
Was gilt als „schwere Straftat“? Reicht ein Ladendiebstahl bereits aus, um die Staatsbürgerschaft zu verlieren?
Auch weitere Fragen zum Staatsangehörigkeitsrecht bleiben – trotz diverser Auftritte führender Unionspolitiker*innen in öffentlichen Formaten – ungeklärt. Was ist mit Doppelstaatler*innen, die ihre zweite Staatsbürgerschaft nicht abgeben können und sich nicht ausgesucht haben, beide Staatsangehörigkeiten zu besitzen? Was gilt als “schwere Straftat“? Reicht ein Ladendiebstahl bereits aus, um die Staatsbürgerschaft zu verlieren? Wie lange ist der Entzug der Staatsbürgerschaft nach dem Erhalt möglich? Gibt es überhaupt eine Frist oder ist man ein Leben lang “Deutscher bis auf weiteres”? Wie wird das Gesetz genau formuliert, sodass es Bestand hat und nicht die Gleichheit aller Bürger*innen Deutschlands gefährdet? All diese Fragen: unbeantwortet! Und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Union diese Fragen auch nicht beantworten möchte.
Aber der Schaden ist da, ein weiterer Stein aus der Brandmauer geschlagen und unzählige Doppelstaatler*innen in Deutschland in Angst. Der Entzug der Staatsbürgerschaft ist keine Kleinigkeit. Mit dem Verlust verliert man Rechte, Ansprüche und viele weitere Schutzräume, die der Gesetzgeber deutschen Staatsangehörigen zusichert. Eines der wichtigsten Rechte, welches nur deutsche Staatsangehörige besitzen: das Recht, in Deutschland zu wählen. Aber auch die Berufsfreiheit in Deutschland, die uneingeschränkten Demonstrationsrechte und der Schutz im Ausland durch den deutschen Staat zählen zu den exklusiven Rechten deutscher Staatsbürger*innen. Kritiker*innen halten Merz deshalb vor, dass er eine Forderung in den Raum stellt, die weder verfassungsmäßig noch umsetzbar ist, da eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts eine Änderung der Verfassung und damit eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit voraussetzen würde.
Die SPD-Vorsitzende, Saskia Esken, warf Friedrich Merz indes vor, mit “rechtspopulistischem Feuer” zu hantieren, an dem er sich die Finger verbrennen werde. Ob die Grünen diesem Vorstoß zustimmen würden, ist ebenfalls fraglich – auch wenn sie in der aktuellen Wahlperiode die wohl härteste Asylpolitik seit den 90er-Jahren mitgetragen haben. Nach aktuellen Schätzungen braucht Friedrich Merz aber die Grünen, um eine solche verfassungsändernde Mehrheit zustande bringen zu können, wenn er nicht auf die AfD zurückgreifen möchte. Auch die Linken erteilten Merz eine klare Absage.
Die letzten Reste der Brandmauer fallen
Zuspruch erhält die Union jedoch von der AfD. So kündigte die AfD an, ihn bei seinem Vorstoß unterstützen zu können, sollte er es wollen. Thorsten Frei, der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, lehnte dies jedoch ab und bezeichnete die Hilfestellung der AfD als “vergiftetes Angebot”. Friedrich Merz hingegen will härtere Regelungen zum Asyl- und Einwanderungsrecht nicht an der AfD scheitern lassen. Ihm sei es egal, “wer ihnen zustimmt”.
In der Bundestagsdebatte vom Mittwoch zeigte sich Merz selbst für seine Verhältnisse besonders kritikunfähig. Er behauptete, die SPD und die Grünen seien schuld, wenn die AfD zur Beschaffung einer Mehrheit notwendig sei. Sie würden mit ihrem Beharren auf ihre Minderheitsmeinung die Mehrheit in Geiselhaft nehmen. Merz kündigte mit stolz geschwollener Brust an, er werde sich in Zukunft von der Kritik an seinen Vorschlägen und den ausdrücklichen Warnungen vor einer Zusammenarbeit mit der AfD “nicht länger beirren lassen“. Anders ausgedrückt: “Wenn ihr mir nicht zustimmt, dann seid ihr schuld, wenn ich mit Rechtsextremen zusammenarbeite.” Es ist ein undemokratisches Ultimatum. “Macht, was ich sage oder ich paktiere mit Rechtsaußen.” Das Motto lautet: Friss oder stirb!
Er wird sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass er im November noch ganz andere Töne angeschlagen hat und jetzt eine 180-Grad-Wende macht. Damals schloss er jegliche Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch aus. Er knüpfte außerdem sein Amt als Parteivorsitzender der Union an den Ausschluss jeglicher Zusammenarbeit mit der AfD. Nun müsste er eigentlich zurücktreten, wenn er sein Wort halten will, denn ohne die AfD wäre der Entschließungsantrag am Mittwoch nicht beschlossen worden. Ohne die AfD hätte es keine Mehrheit gegeben.
Was auf dem Spiel steht
Am Mittwoch ging es nur um einen Entschließungsantrag, der keine Konsequenzen hat. Freitag sieht die Sache aber ganz anders aus. Da soll der tatsächliche Gesetzentwurf von September zur Abstimmung gebracht werden. Sollte die Union hier mit FDP und AfD eine Mehrheit für dieses Gesetz erhalten, hätte die Union mit Hilfe der AfD erstmals ein Bundesgesetz verabschiedet, das tatsächlich rechtlich bindend wäre. Dann müsste es nur noch durch den Bundesrat.
Letzten Endes bleibt Merz‘ Vorschlag aller Wahrscheinlichkeit nach ein Bluff, den er nicht umsetzen können wird. Neben der nahezu sicher bevorstehenden Klage vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof, lässt Merz im Unklaren, wie er die nötigen Mehrheiten zusammentrommeln will und wie man mit konkreten Detailfragen umgehen will. Außerdem hat der CDU-Ministerpräsident, Daniel Günther, bereits angekündigt, dem Gesetz im Bundesrat nicht zuzustimmen. Ob eine Mehrheit im Bundesrat zustande käme, ist damit unsicher.
Was bleibt? Merz setzt auf eine nicht durchdachte Verschärfung im Ton, die jedoch bereits jetzt weitreichende Konsequenzen hat. Es bleibt abzuwarten, ob Merz am Freitag der AfD das Tor zur Macht öffnen wird.