Nächte der Plakatierer

Das Bild zeigt eine Straße in der Nacht, beleuchtet von Laternen. Der Titel lautet: Nächte der Plakatierer. Zwischen Laternenmast & Kabelbinder: Für Kleinstparteien hängt im Bundestagswahlkampf viel am Einsatz Einzelner

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Zwischen Laternenmast & Kabelbinder: Für Kleinstparteien hängt im Bundestagswahlkampf viel am Einsatz Einzelner

In der Nacht zum 12. Januar ist es so weit: Der Bundestagswahlkampf wird sichtbar, wenn die Parteien ihre Wahlplakate anbringen. Während große Parteien mit professionellen Kampagnen und millionenschweren Budgets an den Start gehen, ziehen Kleinstparteien mit begrenzten Mitteln und großem Idealismus in die Nacht. Wie fair ist dieser Wettkampf um Sichtbarkeit?

Mit Einbruch der Nacht am 12. Januar beginnt der sichtbarste Teil des Bundestagswahlkampfs. In frostiger Dunkelheit rüsten sich dann Gruppen von Wahlkampfhelfer*innen mit wetterfesten Taschen, Wagen, Leitern und Kabelbindern. Sie ziehen durch die Straßen, um ihre Plakate an Laternenmasten anzubringen. Was wie ein unscheinbarer Akt erscheinen mag, wird schnell zu einer Mischung aus Aktivismus, Improvisationstheater und Logistikpuzzle. Besonders für Kleinstparteien (Parteien unter der Fünf-Prozent-Hürde) wie Volt, Die PARTEI, Tierschutzpartei, BSW & Co. wird jede Plakatier-Nacht zur Herausforderung: Mit wenigen Ehrenamtlichen, knapp bemessenen und oft improvisierten Arbeitsmitteln müssen sie ihre Botschaften sichtbar machen. 

Es liegt ein hemdsärmeliger Pragmatismus in der nächtlichen Luft, durchzogen von der Spannung, die entsteht, wenn Engagement auf begrenzte Mittel trifft. Eine Wahlkampfhelferin einer Kleinstpartei schildert im Gespräch mit Revolte: “Wenn ich nachts um zwei mit der Leiter losziehe, frage ich mich manchmal schon, warum ich mir das antue. Aber es darf ruhig anstrengend sein. Wir müssen für das, was wir erreichen wollen, bereit sein, zu kämpfen.” Dieser Idealismus stößt auf eine kalte Realität: Die besten Standorte sind oft schon von den großen Parteien belegt, die mit gut organisierten Teams arbeiten.

Ungleiche Ressourcen und strukturelle Hürden

Plakate sind mehr als nur ein Werbemittel: Sie stehen für Meinungsvielfalt und bieten Kleinstparteien die Möglichkeit, ihre Botschaft sichtbar zu machen.

Die Unterschiede in den finanziellen und personellen Mitteln zwischen großen und den kleinsten Parteien sind gravierend. Im Bundestagswahlkampf 2021 gab die CDU etwa 73 Millionen Euro und die SPD rund 58 Millionen Euro aus. Zum Vergleich: Kleinstparteien verfügen über Werbemittel, die in der Regel im fünf- bis unteren sechsstelligen Bereich liegen. Private Großspenden, wie die an Volt für ihren aktuellen Bundestagswahlkampf, sind eine seltene Ausnahme. Sie sind auf Ehrenamtliche und Kleinspenden angewiesen, was professionelle Kampagnen erheblich erschwert.

Auch personell zeigt sich das Ungleichgewicht. Während etablierte Parteien Hunderttausende Mitglieder und zahlreiche Mitarbeitende zählen, sind es bei Kleinstparteien oft nur einige hundert bis tausend Mitglieder und noch weniger Aktive. Diese zahlenmäßige Unterlegenheit führt dazu, dass sie selbst grundlegende Anforderungen, wie das Sammeln von Unterstützungsunterschriften oder das rechtzeitige Fertigstellen eines Wahlprogramms, kaum stemmen können. Diese Hürden sollen zwar sicherstellen, dass nur ernsthafte Parteien antreten, sie können jedoch auch die politische Vielfalt behindern.

Plakate sind mehr als nur ein Werbemittel: Sie stehen für Meinungsvielfalt und bieten Kleinstparteien die Möglichkeit, ihre Botschaft sichtbar zu machen. Während große Parteien sich auf Plakate mit minimalistischer Gestaltung verlassen können, haben Kleinstparteien oft nur wenige Sekunden, um vielschichtige Themen wie Klimagerechtigkeit, soziale Gleichheit oder Antifaschismus zu vermitteln und ihr Profil abzubilden. Neben der Sichtbarkeit stellen auch Regeln wie die Fünf-Prozent-Hürde eine Barriere für Kleinstparteien dar. Die Möglichkeit, dass sich Parteien zusammenschließen, könnte dazu beitragen, politische Vielfalt zu fördern. Ebenso könnten Wähler*innen eine Ersatzstimme angeben, die greift, falls ihre bevorzugte Partei die Prozenthürde nicht schafft. Doch diese Mechanismen gibt es im deutschen Wahlsystem nicht. Sie werden zwar von einigen Initiativen und Vereinen wie Mehr Demokratie e.V. gefordert, eine breite Öffentlichkeit dafür gibt es bislang jedoch nicht.

Lösungen für mehr Fairness

Die Frage nach einer Neuregelung drängt sich auf: Könnten staatliche Förderprogramme oder Lockerungen bei den Formalitäten Kleinstparteien den Einstieg erleichtern? Eine Abschaffung oder Anpassung der Fünf-Prozent-Hürde würde zumindest die Stimmen von Wähler*innen besser repräsentieren. Doch diese Ideen sind nicht unumstritten: Kritiker*innen könnten argumentieren, dass zu viele Parteien die Regierungsbildung erschweren. Ein Blick auf internationale Beispiele verdeutlicht, dass Reformen möglich sind: In Dänemark ermöglicht eine niedrige Sperrklausel von 2 Prozent den Einzug von Kleinstparteien, während gleichzeitig stabile Regierungen gebildet werden. In den Niederlanden liegt sie sogar bei 0.67 %. Auch das funktioniert. Deutschland könnte von solchen Modellen lernen, um Meinungsvielfalt zu fördern und demokratische Barrieren abzubauen.

Trotz aller Schwierigkeiten  sind die nächtlichen Wahlkämpfer*innen ein Symbol für den Kern der Demokratie: der Einsatz Einzelner. Ihre Plakate sind nicht nur Wahlversprechen, sondern Ausdruck von Ideen und Visionen, die die politische Landschaft bereichern. Jede Laterne erzählt eine Geschichte, jeder Kabelbinder hält einen Traum – stark genug, um den ungleichen Machtverhältnissen Paroli zu bieten. 

Demokratie entsteht nicht nur in Talkshows und Parlamentsdebatten. Sie entsteht auch an Straßenlaternen, nachts um zwei, wenn Idealismus und Engagement auf Kälte und Ressourcenknappheit treffen – und gewinnen.


Geschrieben von: Inan Erdogan

Inan Erdogan