Bringen SPD-Landesgruppen den Bahnausbau zum Entgleisen?

Die SPD blockiert den Bau notwendiger Bahnstrecken, um Wähler*innen zu erhalten. Dazu nutzt sie fadenscheinige Argumente, die Expert*innen längst widerlegt haben. 

Nach der verkorksten Wärmewende und einem weichgespülten Klimaschutzgesetz, bahnt sich neuer Streit in der Ampel um die Klimapolitik an. Diesmal im Verkehrssektor. Konkret geht es um die zwei geplanten ICE-Neubaustrecken zwischen Hannover und Hamburg bzw. Hannover und Bielefeld. Die Planungen für beide Trassen reichen teilweise bis zu 33 Jahre zurück. Dass hierbei nichts vorangeht, liegt maßgeblich an beteiligten Politiker*innen in der Region, die sich seit Jahrzehnten von reaktionären Bürgerinitiativen zu einer Ablehnung dieses Schienenstrangs treiben lassen. Über die konkrete Trassenführung soll nach der Sommerpause der Deutsche Bundestag entscheiden. 

Nun haben sich die SPD-Landesgruppen aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen der SPD im Bundestag in einem Beschluss für den Ausbau der jeweiligen Bestandsstrecken ausgesprochen – und damit ebenfalls gegen eine Neubaustrecke. Da beide Gruppen in der Fraktion recht einflussreich sind, ist fraglich, ob der Schienenwegeausbau unter der jetzigen Koalition überhaupt noch ordentlich vorankommen wird. 

Eine unendliche Diskussion 

Die Vorgeschichte dieses Beschlusses ist schnell erzählt. Um das im Pariser Klimaabkommen vereinbarte 1,5°C-Ziel zu erreichen, müssen im Verkehrssektor mehr Menschen vom Auto auf die Bahn umsteigen. Dies bedeutet im Ergebnis eine erhebliche Verkehrssteigerung auf der Schiene, womit das derzeitige Schienennetz, welches nach 16 Jahren CSU-Verkehrspolitik in einem desolaten Zustand ist, nicht mehr zurecht kommt. Dies ist insbesondere in Engpässen der Fall, wo wie zwischen Hannover und Hamburg bzw. Hannover und Bielefeld in Teilabschnitten nur zwei Gleise liegen, die sowohl vom langsamen Nah- und Güterverkehr, als auch vom schnellen Fernverkehr befahren werden. Deshalb wird seit Jahren vor Ort und im Bund über den Bau neuer Gleise diskutiert. Wo diese verlaufen, ist dabei der Knackpunkt:  Sollen die neuen Gleise als Neubaustrecke bestandsfern verlaufen oder soll nah an der Bestandsstrecke die bisherige Trasse ausgebaut werden? 

Störrische Bürgerinitiativen haben dabei, teilweise in semi-demokratischen Dialogverfahren zwischen Bahn,  Politik und Bürgerinitiativen, den Ausbau der Bestandsstrecken durchgesetzt. Die Deutsche Bahn, Verkehrsexpert*innen, aber auch Verbände wie der VCD oder PRO BAHN betonen dabei, dass dies für die Verkehrsverlagerung nicht ausreiche. Nachdem der Streit über die Frage Ausbau oder Neubau von der GroKo lange verschleppt wurde, hat sich die Ampel zum Ziel gesetzt, das Planungsverfahren zu beschleunigen. Dies liegt auch daran, dass die Regierung die Umsetzung des Deutschlandtaktes angehen möchte: Der sieht einen Taktfahrplan wie in der Schweiz vor, mit dem Züge pünktlicher und zuverlässiger werden sollen. Im Auftrag des Verkehrsministeriums plant die Deutsche Bahn daher für beide Strecken ergebnisoffen Aus- und Neubauvarianten. Da für beide Strecken ein Neubau notwendig zu sein scheint, springt die SPD nun mit ihrem Beschluss sprichwörtlich auf den  Zug des Protests auf. 

Der unzureichende Ausbau

Diese Tonalität des Ausbaus im Bestand durchzieht dabei den kompletten Beschluss der SPD-Landesgruppen aus NRW und Niedersachsen. Der Ausbau der Schiene sei zwar als Priorität zu betrachten, wichtig sei es aber auch die kritischen Stimmen aus der Bevölkerung zu hören und zu respektieren. Ebenso sei ein Ausbau im Bestand schneller und günstiger als ein Neubau und zudem noch ein Beitrag zum Klimaschutz, da keine neuen Flächen benutzt würden. Diese Argumentation zeigt, wie wenig Kenntnis die Verfasser*innen über Grundlagen der Eisenbahnbetriebswissenschaften haben. 

 Expert*innen weisen bereits seit Jahren, darauf hin, dass ein reiner Bestandsausbau nicht ausreicht, um genügend Verkehr auf die Schiene zu verlagern. Besonders gut zeigt sich dies an der Strecke Hannover-Hamburg. Hier ist ein dreigleisiger Ausbau der Strecke zwischen Lüneburg und Celle geplant. Bei einer prognostizierten Belastung von 550 Zügen/Tag sind mit einer Dreigleisigkeit aber nur rund 430 davon fahrbar. Damit fehlen pro Tag allein rund 100 Züge, die zur Verkehrsverlagerung beitragen könnten. Eine klare Entlastung und Verkehrsverlagerung bringen nur neue viergleisige Strecken, die bestandsfern als Neubaustrecke geführt werden. 

Dies hat mehrere Gründe. Zum einen werden erst durch einen Neubau auch Trassen auf der Bestandsstrecke frei. Diese können dann z.B. vom schon heute überlasteten und verspäteten Nahverkehr genutzt werden oder auch von Güterzügen, die sonst für ICEs an die Seite fahren müssten. Zum anderen sind bei einem Ausbau der Bestandsstrecke erhebliche Eingriffe in bisherige Bebauungen notwendig. Dies betrifft neben anliegenden Wohnhäusern und Gewerbebetrieben auch bahneigene Anlage, z.B. Bahnhöfe. Es ist daher vollkommen unverständlich, wie man darauf kommt, dass dieser Ausbau schneller klappen könnte als ein Neubau. Im Gegenteil beweisen bereits heute laufende Ausbauprojekte wie z.B. auf der Strecke Bamberg-Nürnberg, dass sich Bauzeiten aufgrund von ungünstigen Bauabläufen und Lärmschutz erheblich verlängern können. Teilweise ist, wie im Beispiel, mit bis zu 30 Jahren zu rechnen. Dabei wird auch der Verkehr auf den  betroffenen Strecken insbesondere im Nahverkehr stark eingeschränkt. Im schlimmsten Fall könnten dadurch Fahrgäste wieder auf das Auto umsteigen. 

Auch ist so ein Ausbau nicht unbedingt günstiger, da gerade ÖPNV-Betreiber*innen für  für nicht durchführbare Fahrten entschädigt werden müssen. So können die Baukosten bei Ausbauprojekten nochmal um gut 30% steigen. Zudem gilt im Bahnverkehr das Credo: Wer billig baut, baut zweimal. Wenn die Bestandsstrecke, wie bereits errechnet, nicht die erwartete Kapazität zur Erreichung der verkehrlichen Ziele bringt, wird im Zweifel in Zukunft doch noch eine Neubaustrecke gebaut werden müssen. Dies zeigt z.B. das Überwerfungsbauwerk in Erfurt, das nach Einsparungen dann doch gebaut werden musste, um einen reibungslosen Ablauf im Bahnverkehr zu ermöglichen

Die Vorteile einer Neubaustrecke 

Im Gegensatz dazu ist der Bau von neuen Strecken einfacher zu realisieren. Der Bau der neuesten Strecke zwischen Wendlingen und Ulm brauchte beispielsweise nur etwas mehr als zehn Jahre. Mit solchen Bauzeiten wäre im Gegensatz zu einem Ausbau auch eine Fertigstellung zum Zeitpunkt der Klimaneutralität Deutschlands möglich. Damit lassen sich die Behauptungen der SPD, dass ein Ausbau schneller und günstiger sei, nicht belegen. Auch der Beitrag zum Klimaschutz ist allein aufgrund der langen Bauzeit und der bau- und kapazitätsbedingten Einschränkungen zweifelhaft. 

Vor allem ist es heuchlerisch von der SPD sich im Papier in Sachen Bahn für die Einhaltung von Natur- und Klimaschutz einzusetzen, aber dies bei den geplanten Autobahnprojekten wie der A39 in Niedersachsen nicht zu tun. Gleichzeitig zeigen die bereits fortgeschrittenen Planungen der Deutschen Bahn bei beiden im SPD-Beschluss erwähnten Bahnprojekten, dass ressourcenschonend entlang von bestehenden Verkehrswegen, wie der A7 bzw. A2 gebaut werden kann

Die Konterkarierung der Bürgerbeteiligung 

Auch das Argument der Bürgerbeteiligung wird von der SPD ad absurdum geführt. Die Forderung, die Interessen der Bürger*innen vor Ort zu berücksichtigen, ist angesichts des jahrelangen Protests der Bürgerinitiativen nichts Ungewöhnliches. Sie verkennt aber die Komplexität der Situation. Beispielhaft hierfür ist wieder das Bahnprojekt Hannover-Hamburg. Hier wurde im Jahr 2014 von der niedersächsischen Landesregierung das „Dialogforum Schiene Nord“ durchgeführt, bei dem betroffenen Bürgerinitiativen und Kommunen beteiligt waren. Verkehrsverbände und Kommunen sowie Initiativen entlang der Bestandsstrecke waren deutlich unterrepräsentiert. Hier wurde erstmals der Ausbau der Bestandsstrecke diskutiert und „beschlossen“, die erwartbaren Kapazitätsengpässe wurden dabei ignoriert. Wenn die SPD in Land und Bund meint sich für die Ablehnung der Bürger*innen einsetzen zu müssen, verkennt sie, dass die Situation vor Ort viel komplexer ist.  Es handelt sich dabei nicht um einen einstimmigen “Kompromiss”, wie die SPD behauptet, da schon damals einige Kommunen und Verbände den Ausbau ablehnten

Für die SPD sind mit diesem Wording aber wichtige Wähler*innenstimmen verbunden. Bei beiden Neubaustreckenverläufen von Hannover-Bielefeld und Hannover-Hamburg haben mächtige SPD-Abgeordnete wie die Sprecherin des Seeheimer-Kreises Marja Völlers oder der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil ihren Wahlkreis. Mit dem jetzt getroffenen Beschluss scheinen beide ihre Wahlversprechen an der Bevölkerung einlösen zu wollen, getreu dem Motto: Lieber Populismus statt echter Verkehrswende. 

Für eine Verkehrswende von der Alle profitieren 

Wenn der SPD diese aber wichtig ist, sollte es ihr vielmehr darum gehen, nicht plump gegen eine Neubaustrecke anzugehen, sondern Betroffene vor Ort zu Beteiligten zu machen. Dazu ist bereits seit längerem klar, dass wie bei anderen Neubaustrecken in Baden-Württemberg und Bayern auch, z.B. ein schneller Regionalverkehr auf den autobahnnahen Neubaustrecken eingeführt werden kann. Dies würde  in den betroffenen Regionen die Möglichkeit bieten, zehntausende Menschen an den ÖPNV anzuschließen und attraktive Fahrtzeiten in die anliegenden Metropolen zu schaffen. Der Bahn-Influencer Lennart Fahnenmüller schreibt dazu bei Twitter: „Großstädter mögen die Halte in Montabaur, Allersberg oder Merklingen (Regionalbahnhöfe an Neubaustrecken; Anm. d. Autors) belächeln – für die Regionen sind sie die Eintrittskarte zur Mobilität auf der Schiene“

Die SPD scheint diese Möglichkeit nicht sehen zu wollen. Im Beschluss behauptet sie, der Deutschlandtakt müsse Vorteile für die Region bringen. Das wird er aber schon jetzt in den Planungen durch eine bessere Anbindung an den Nahverkehr. Eine Neubaustrecke ist nicht nur dafür da, attraktive Fahrtzeiten für den ICE zu schaffen, sondern langfristig mit dem Deutschlandtakt ein Zielnetz zu bilden, dass eine klimagerechte Mobilitätswende ermöglicht. Hierfür braucht es Politik, die sich aber für diesen konkreten Neubau einsetzt und ihn nicht populistisch für Wähler*innenstimmen ablehnt. Kippt dieser Beschluss dennoch die bisherige Mehrheit in der SPD-Bundestagsfraktion für einen Neubau, so zementiert dies angesichts der sowieso schon katastrophalen Verkehrspolitik der Ampel eine der wichtigsten Verkehrsinfrastrukturen in Norddeutschland auf Jahrzehnte. Die beiden SPD-Landesgruppen müssen daher ihre verkehrspolitische Geisterfahrt stoppen, um auch zukünftig einen nachhaltigen Bahnverkehr zu ermöglichen. 


Geschrieben von: Kay Rabe von Kühlewein

Kay Rabe von Kühlewein

Kay Rabe von Kühlewein ist Klimaaktivist bei Fridays for Future in Niedersachsen. Dort beschäftigt er sich im Rahmen von Kampagnen mit verschiedenen Themenbereichen der Energie- und Verkehrswende. Kontakt: @klima_kay auf Twitter