“Herr Kuban hatte die Gefahr für Kinder erkannt” – Twitter-Anwalt Jun über Kubans KiTa-Doxxing

“Herr Kuban hatte die Gefahr für Kinder erkannt” - Twitter-Anwalt Jun über Kubans KiTa-Doxxing

Twitter-Anwalt Chan-jo Jun hat zehntausende Follower*innen in den sozialen Medien, denen er juristische Einordnungen und rechtspolitische Analysen liefert. Auch nachdem CDU-Politiker Tilman Kuban in der letzten Wochen eine Hetzkampagne gegen eine hessische KiTa auslöste (REVOLTE berichtete), meldete sich Anwalt Jun zu Wort. REVOLTE traf Jun nun zum exklusiven Gespräch über Doxxing, Tilman Kuban und notwendige politische Konsequenzen.

Revolte: Herr Jun, stellen Sie sich gerne einmal unseren Leser*innen vor – wer sind Sie und was machen Sie?

Jun: Ich betreibe hauptsächlich eine Anwaltskanzlei für IT-Recht mit derzeit 19 AnwältInnen. Wir engagieren uns dabei u. a. gegen HateSpeech und für bessere Regulierung in sozialen Medien.

Revolte: Sie sind mit knapp 90.000 Followern auf Twitter quasi der deutsche Twitter-Anwalt – was machen Sie da eigentlich genau? Welchen Nerv treffen Sie mit Ihrer Arbeit?

Jun: Viele gesellschaftliche Fragen haben einen juristischen Aspekt, der oft falsch interpretiert wird. Ich sehe meine Aufgabe darin, aktuelle Geschehnisse aus der rechtlichen Perspektive einzuordnen. Gerade wenn Nachrichten und Meinungen von einer oft absichtlich falsch lancierten Position ausgehen, sehe ich dringenden Handlungsbedarf.

Revolte: Letzte Woche veröffentlichte CDU-Politiker Tilman Kuban die Kontaktdaten einer hessischen KiTa und löste damit eine Hetzjagd gegen das Erzieher*innen-Team aus, über die auch REVOLTE berichtete. Wie haben Sie im Zuge von dem Vorfall in der Kita erfahren und was hat Sie dazu bewogen, den Politiker Tilman Kuban öffentlich zu kritisieren?

Jun: Ich wurde – wie so oft – von Twitter-Usern auf die Diskussion hingewiesen und befragt.

Revolte: Nachdem Kuban die Kontaktdaten der KiTa veröffentlicht und einen rechten Mob auf die KiTa losgelassen hatte, kam es zu Bedrohungen gegen die KiTa – hat sich Tilman Kuban Ihrer Einschätzung nach strafbar gemacht?

Käme es jedoch wegen der Veröffentlichung zu Körperverletzungen, wäre eine Verantwortung möglich.

Chan-jo Jun, Rechtsanwalt

Jun: Obwohl der Fall noch näher geprüft wird, glaube ich, dass die Grenze zur Strafbarkeit noch nicht überschritten wurde. Das Schreiben enthält zwar Namen und Adresse der Einrichtung, aber keine Angaben von natürlichen Personen, was aber Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 126a StGB wäre. Käme es jedoch wegen der Veröffentlichung zu Körperverletzungen, wäre eine Verantwortung möglich.

Revolte: Können Sie das genauer erklären? Es wird über “Doxxing”gesprochen.

Jun: Wir erleben immer wieder das gleiche Schema. Ein Meinungsführer mit großer Reichweite erzeugt Empörung und Hass, ohne sich selbst jedoch unmittelbar strafbar zu machen. Dann folgen bei der großen Anzahl von wütenden Usern Bedrohungen und Beleidigungen und wenn der Mob ausreichend groß ist, kommt es auch zur Anwendung von Gewalt. Wer diese Spirale in Gang setzt, kann zur Verantwortung gezogen werden, wenn die Entwicklung absehbar war.

Revolte: Auch wenn keine privaten Daten veröffentlicht worden sind, sind Privatpersonen durch den Leak bedroht und in Angst.Unter welchen Bedingungen müssten die Kampagneros rund um Kuban mit Schadensersatz und Schmerzensgeld Forderungen rechnen?

Jun: Für die geistigen Brandstifter wirkt die Aktion in der Regel sogar positiv. Verängstigte Kita-Mitarbeiter, Kinder und Eltern werden nur selten die Kraft aufbringen, einen Spitzenpolitiker auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld zu verklagen, selbst wenn es Erfolgsaussichten gäbe. Für Kuban und Aiwanger lohnt sich jedoch die Aufmerksamkeit aus Empörung und Gegenempörung. Sie nennen das dann „notwendige Diskussion“ und schieben sogar die Verantwortung auf die KiTa-Leitung (s. BR).

Revolte: Was raten Sie Menschen, die in ähnliche Situationen geraten, wie die Kita-Mitarbeiter*innen nach der Kuban-Hetze?

Jun: Ich wünschte, man könnte den Betroffenen einen wirksamen Weg zur Gegenwehr aufzeigen, aber das erschöpft sich bisher auf Beratungsstellen, wie etwa HateAid. Die Lösung ist oft defensiv und feige: Kommunikation kappen und warten, bis die Angriffe abebben.

Revolte: Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Kultur in Deutschland in Hinblick auf solche Vorfälle? 

Jun: Soziale Netzwerke und deren erregungsorientierte Algorithmen steigern die Versuchung, mit Hass große Wirksamkeit zu erzielen. Hass ist als Motivation gewöhnlich und legitim geworden und das führt mit einiger Verzögerung auch zu vermehrten gesellschaftspolitischen Gewalttaten.

Revolte: Wie beurteilen Sie Kubans Rolle als Politiker im Hinblick auf den Vorfall?

Herr Kuban hatte die Gefahr für Kinder erkannt und in seinem Wiederholungstweet sogar benannt.

Chan-jo Jun, Rechtsanwalt im Revolte Interview

Jun: Herr Kuban hatte die Gefahr für Kinder erkannt und in seinem Wiederholungstweet sogar benannt. Er wusste, dass Menschen in Gefahr geraten, hatte das aber in Kauf genommen. Diese Abwägung ist in manchen Gruppen und Untergruppen Teil der politischen Kultur geworden.

Revolte: Wie denken Sie über die aktuellen Bestrebungen, Kuban zum Rücktritt aufzufordern?

Jun: Herr Kuban repräsentiert als MdB die Wähler seines Wahlkreises und die ihn aufstellende Partei. Von deren Seite ist nicht viel Missbilligung für sein Verhalten zu hören, sodass er offenbar in dessen Sinne gehandelt hat.

Revolte: Wie können Politiker*innen Ihrer Meinung nach dazu beitragen, solche Vorfälle zu verhindern?

Jun: Wenn die Gesetze nicht die Grenzen vorgeben, braucht es einen moralischen Kompass. Diskussionen über Familienbilder und Diversität werden mit viel Emotion geführt, wir müssen aber in der hitzigen Diskussion ein Auge darauf richten, wen man attackiert. Die hier angelegte Rhetorik hätte man einen Abgeordneten der anderen Partei ohne weiteres entgegenwerfen dürfen, aber schon bei Einzelpersonen ohne politisches Amt wäre mehr Taktgefühl nötig und Angriffe gegen Kinder – das geht überhaupt nicht. Das lässt sich mit keiner Diskussion rechtfertigen.

Revolte: Welche Schritte müssen denn Ihrer Meinung nach unternommen werden, um politische und gesellschaftliche Debatten in Deutschland sachlicher und respektvoller zu gestalten?

Jun: Wenn wir keinen moralischen Konsens finden können, weil der Anreiz für Hass zu groß ist, brauchen wir differenziertere rechtliche Regeln. Der Doxxing-Paragraph ist ein Anfang, aber er übersieht die Gefahren, die durch Dog-Whistling entstehen, also das Aufstacheln von Hass durch reichweitenstarke User.

Revolte: Das wars von unserer Seite – vielen Dank für Ihre Zeit und das Interview Herr Jun!


Geschrieben von: Maximilian Reimers

Maximilian Reimers