Der neue Abschiebe-Hype: Warum wir aufhören müssen über Abschiebungen zu reden

Die Abschiebe-Zahlen müssen erhöht werden – das sind Töne, die man sonst nur von den Konservativsten kennt. Warum sind Abschiebungen gerade auf fast dem ganzen politischen Spektrum ein Thema und sind sie wirklich eine Lösung? Ein Kommentar von REVOLTE

Bei einem Treffen in Stockholm berieten die EU-Innenminister*innen Ende Januar, wie die Zahl der Abschiebungen in den Mitgliedstaaten erhöht und die EU-Außengrenzen geschützt werden könnten. Im Vereinigten Königreich stellte die Regierung des britischen Premierministers Rishi Sunak letzte Woche stolz einen Gesetzesentwurf vor, der die Asylregelungen erheblich verschärft: Das Gesetz soll die Antragstellung für “illegal” Eingereiste unmöglich machen und sieht für sie neben Gewahrsam auch eine schnellstmögliche Abschiebung vor. Estland und Finnland, jeweils wirtschaftsliberal und sozialdemokratisch regiert, setzten sich im Juli letzten Jahres für “legale Pushbacks” an den EU-Außengrenzen ein.

Der Wunsch nach mehr Abschiebungen wird in Europa nicht nur lauter, er hat es auch in den progressiven Teil der Politik geschafft. SPD und Grüne liebäugeln mittlerweile auch immer mehr mit der zwanghaften Rückführung von Zuwanderern. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) prüft anscheinend sogar, ob Abschiebungen nach Afghanistan wieder möglich wären. 

Warum sind Abschiebungen jetzt so beliebt?

Grund 1: 2022 wurde nur ein Drittel aller geplanten Abschiebungen aus Deutschland tatsächlich durchgeführt. Nicht nur die Union beklagt das, auch die Bundesregierung kündigte deswegen in ihrem Koalitionsvertrag eine “Rückführungsoffensive” an, die sich nicht nur gegen “Straftäter und Gefährder” richten soll.

Grund 2: Nachrichten von gewalttätigen Fremden erreichen uns in letzter Zeit scheinbar in schneller Abfolge: wie z.B. vom letzten Dezember aus Illerkirchberg als zwei Mädchen auf dem Schulweg nahe einer Geflüchtetenunterkunft mutmaßlich von einem Geflüchteten angegriffen wurden, eine von ihnen tödlich. Oder vom Januar, als ein zuvor inhaftierter Migrant in einem Regionalzug nach Hamburg zwei junge Menschen tötete. Tragödien wie diese verfangen in der öffentlichen Migrationsdebatte gut, heizen sie an und verrohen sie. 

Dabei gibt es derzeit keine Belege für eine erhöhte Gewaltbereitschaft von Zugewanderten. Der aktuellsten Kriminalstatistik vom Juli 2022 nach zeigen die “Auswirkungen der Zuwanderung von Asylsuchenden Kriminalitätslage in Deutschland (…) trotz der seit 2015 erstmals wieder gestiegenen Anzahl neu registrierter Asylsuchender weiterhin eine rückläufige Tendenz auf”. Und schon in der entsprechenden Statistik von 2016 heißt es, “dass der weit überwiegende Teil der seit Anfang des Jahres 2015 nach Deutschland gekommenen Zuwanderer weiterhin keine Straftaten begeht.” Besonders wichtig: Die erfassten Straftaten von Nichtdeutschen schließen auch Delikte von Tourist*innen oder ausländerrechtliche Verstöße mit ein, die logischerweise nur von Menschen mit Migrationshintergrund begangen werden können. Daher lässt sich durch diese Zahlen kein eindeutiger Anteil an allen Straftaten ermitteln. 

Grund 3: Die Kommunen sind überfordert. Auf dem Flüchtlingsgipfel im Februar klagten Kommunen und Länder, dass die Gelder des Bundes für die Aufnahme von Geflüchteten nicht ausreichen, und es auch an Orten zur Beherbergung mangele. Die von Faeser zugesagte Unterstützung enttäuschte. Neues Geld soll es nämlich nicht geben. 
So sehen sich auch die Einheimischen mit zu großen Herausforderungen konfrontiert, wie z.B. im mecklenburgischen Upahl. Das Dorf zählt nur 500 Einwohner*innen, soll aber 400 Geflüchtete aufnehmen. Klar, dass Integration von solchen Verhältnissen erschwert wird.

Können Abschiebungen das “Geschäftsmodell” der Schleuser zerstören?

Eine strengere Rückführungspolitik wird nicht nur als Lösung für diese Herausforderungen gehandelt, sondern auch für andere Probleme: Schlepper, oder Schleuser, machen viel Geld damit, Menschen in Not die Überfahrt in sichere Länder zu versprechen. Zu möglichst kleinen Kosten stellen sie dafür unzureichende Ausstattung, wie z.B. kaputte Schlauchboote, die Menschen auf ihrer Reise oft in Lebensgefahr bringen. Könnten strengere Asylvorschriften den Andrang auf die EU reduzieren und damit Schlepper stoppen? 

Nein. Wenn Faeser behauptet, dass legale Einwanderung nach klaren Kriterien das Geschäftsmodell der Schleuser zerstören würde, irrt sie sich. Gesetze mögen sich ändern, aber kurzfristig werden die Gründe, aus denen Menschen flüchten, nicht verschwinden. Der beste Weg, Schleppern ihr Geschäftsmodell zu nehmen, ist eine sichere Einreise in europäische Länder zu ermöglichen, nach der sofort ein Asylantrag eingereicht werden kann. Sonst werden sich Bootsunglücke mit zahlreichen Toten im Mittelmeer, wie das von vor einigen Wochen, wiederholen.

Uns fehlen Menschen. Warum sollten wir sie dann abschieben?

CDU und CSU bemängeln, dass Asylpolitik nicht klar von Arbeitsmarktpolitik getrennt wird. Ihrer Meinung nach sollte der Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland gesondert geregelt werden. Genau das scheint die Ampel-Regierung gerade aber zu tun und genau das darf nicht die Antwort auf den akuter werdenden Fachkräftemangel sein, geschweige denn die Belastung der Kommunen. Joachim Stamp, der Migrationsbeauftragte der Regierung (FDP), will ausländischen Fachkräften den Weg in den deutschen Arbeitsmarkt erleichtern, in Ghana vereinbaren Svenja Schulze, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit (SPD), und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Abkommen, um ghanaische Fachkräfte anzuwerben. Wie erfolgreich diese Bemühungen sein können, sei erstmal dahingestellt (die Verhandlungen fanden in dem “Migrationszentrum” der ghanaischen Hauptstadt statt, das Stamp einst zur Abschiebung ghanaischer Schutzsuchender mitgegründet hatte). Der entscheidende Fehler liegt darin, die Ausbildungs- und Integrationsbemühungen auf die Menschen zu konzentrieren, die nicht einmal hier sind. 

Währenddessen gibt es in Deutschland Geflüchtete und Migrant*innen, die hier eine Berufsausbildung machen und arbeiten wollen. Die vergangenen Jahre zeigen aber: Das braucht Zeit. Während in den ersten zwei Jahren etwa 9 % der Geflüchteten von 2015 und 2016 Arbeit gefunden hatten, waren es fünf Jahre nach der Zuwanderung bereits 55 %! Offensichtlich besteht ein Interesse am Arbeitsmarkt, aber Deutschlernen, Integration und Ausbildung sind Schritte, die davor noch getan werden müssen. Besonders für Frauen sind die Hürden in den Arbeitsmarkt viel zu hoch, und genau diese gilt es abzubauen. Statt diese zeitaufwendigen Prozesse aber abzuwarten, unterstellen Politiker*innen den Geflüchteten Faulheit (Franziska Giffey (SPD), Boris Palmer (OB Tübingen)).

Unpopular Opinion – eine unbeliebte Meinung?

Dass Bundesminister*innen ausgebildete Fachkräften aus dem Ausland in den deutschen Arbeitsmarkt holen wollen und damit Menschen eine Karriere bieten, deren Bildungsabschluss hier noch nicht anerkannt wurde, ist natürlich eine deutliche Verbesserung bisheriger Regeln und genau das, was Expert*innen fordern. Zu einer Fachkräftestrategie gehört aber auch, dass Perspektiven für die Geflüchteten in Deutschland geschaffen werden, dass der Weg in die Berufsausbildung und den Arbeitsmarkt geebnet und – zuallerst – die Unterbringung und Integration von Betroffenen gewährleistet wird. Denn wir brauchen Fachkräfte, die am Standort Deutschland interessiert sind. Kurz: Wir brauchen Geflüchtete. 

Aber der entscheidende Grund, warum wir Geflüchtete nie, nicht einmal Gefährder oder Straftäter, abschieben sollten, ist der: Sie sind Menschen und sie sind nicht weniger Mensch, wenn sie Abscheuliches tun. 

Deutschen Straftätern sprechen wir auch nicht all ihre grundlegenden Rechte ab. Auch bei einem Freiheitsentzug respektieren wir ihr Recht auf Sicherheit. Warum sollten wir das also mit zugewanderten Menschen nicht auch tun? Denn die Rückkehr in die Heimat setzt Menschen nicht selten der willkürlichen Strafverfolgung autokratischer Regimes aus, die für Menschenrechtsverletzungen bekannt sind. Wenn Deutschland also durch die Bewilligung von Asylanträgen die Bedrohung, die von ihnen gegen Leib und Leben ausgeht, anerkennen kann, kommt eine Abschiebung in die gleichen Länder einer Menschenrechtsverletzung gleich. 

Warum wir aufhören müssen, über Abschiebungen zu reden

All die Gründe, die für eine Erhöhung der Abschiebezahlen angeführt werden, stützen sich auf falsche Tatsachen, verkennen die Bedürfnisse des Wirtschaftsstandorts Deutschlands und ignorieren die Menschlichkeit der Betroffenen. Abschiebungen sind nie eine Lösung und sollten daher nicht als solche verkauft werden. 

Fakt ist: Wenn Regierungen sich zu den Ideen hinwenden, die damals nur die problematischsten unter den EU-Regierungschefs ausgesprochen haben, dann hat Europa ein Problem. Dann haben Politiker*innen aufgegeben, die politische Debatte den Rechten und Ungerechten überlassen und sich für den einfachen, schnellen und schmutzigen Weg entschieden. Nennen wir es das, was es ist: eine moralische Bankrotterklärung der heutigen Politik.


Geschrieben von: Amy Amoakuh

Amy Amoakuh

Amy ist Chefredakteurin der REVOLTE. Sie beschäftigt sich neben Sprachwissenschaft auch mit Sozialpolitik und Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Fragen, Anmerkungen oder Kommentare bitte an @a_amoakuh auf Twitter.