“Ich sehe schwarz für eine zweite Runde für die Ampel” – Juso-Kandidat Philipp Türmer exklusiv im REVOLTE-Interview

Es kann nur eine*n geben: Gleich zwei Jungsozialist*innen wollen Chef/in des SPD-Nachwuchses werden. REVOLTE traf beide zum ausführlichen Interview. Den Anfang macht Philipp Türmer.

Wer in der SPD und unter 35 Jahre alt ist, ist auch bei den Jusos, der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialist*innen in der SPD, also der SPD-Jugendorganisation. Doch die Jusos verstehen sich nicht nur als Parteinachwuchs, sondern auch als eigenständiger politischer Richtungsverband.

Trotzdem: Gerade als Gesicht der jungen Menschen in der SPD hat der*die Chef*in der Jusos viel Einfluss. Und wie viel, ist spätestens seit Kevin Kühnert bekannt. 2017 wurde er Juso-Chef und prägte die SPD seitdem wie kaum jemand anderes.

Und die Position wird nun mal wieder frei: Denn beim Juso-Bundeskongress im November tritt die bisherige Vorsitzende Jessica Rosenthal nach zweieinhalb Jahren an der Spitze nicht erneut an.

Spannend!

Denn: Für ihre Nachfolge gibt es zwei Bewerber*innen. Einer davon ist Philipp Türmer. Der ist 27 Jahre alt und seit sechs Jahren bereits Mitglied im Juso-Vorstand. Türmers Schwerpunkt ist dort unter anderem die Frage nach Verteilungsgerechtigkeit, also Steuer- und Finanzpolitik.

Mit REVOLTE spricht der Hesse statt über Nancy Faeser lieber exklusiv über seine Ziele für die Jusos und die Wohnsituation seiner Großmutter.

“Den Rechten gelingt es gut, gegen Umverteilung zu polemisieren”

Philipp, wie haben deine Großeltern gewohnt: Eigentum oder zur Miete?

Die Eltern meines Vaters erst zur Miete, später haben sie sich dann für die ziemlich stark gewachsene Familie ein Haus bauen können. Meine Oma war alleinerziehend und hat mit meiner Mutter im Haus meines Urgroßvaters gelebt. 

Du ahnst, warum wir fragen: Wenn linke Politiker*innen über Steuerreformen, zum Beispiel über eine gerechtere Erbschaftssteuer reden, warnen Konservative sofort davor, dass man normalen Bürger*innen ans “Haus der Oma” wolle. Kann man in Deutschland überhaupt konstruktiv über Verteilungsgerechtigkeit sprechen oder droht sofort eine rechte Gegenkampagne?

Im Moment müssen wir leider feststellen: Den Rechten gelingt es sehr gut, gegen eine Politik der Umverteilung zu polemisieren. Plötzlich geht es um besagtes Haus der Oma, obwohl die allermeisten linke Erbschaftsteuerkonzepte das ja über die Freibeträge oder Ausnahmeregelung gar niemandem wegnehmen wollen. Die gesellschaftliche Linke verliert in diesen Fragen immer wieder die Vorherrschaft in der öffentlichen Debatte und befindet sich nur noch in einer Verteidigungshaltung. Das ist aber auch unsere eigene Schuld, weil wir häufig viel zu verzagt, vorsichtig und wenig kreativ in den Diskurs gehen. 

Was braucht es, um politische Diskussionen über abstrakte Themen wie Steuerpolitik konstruktiver führen zu können?

Zunächst bedarf es dafür Klarheit darüber, wozu wir überhaupt Steuern erheben. Ja, Steuern leisten auch ihren Anteil zur Finanzierung des Staates. Dafür sind sie aber gar nicht so zentral, wie meistens geglaubt wird. Den wichtigsten Zweck erfüllen Steuern meiner Meinung nach dann, wenn sie von oben nach unten umverteilen und die Verwerfungen kapitalistischer Primärverteilung ausgleichen. Das bedeutet nicht immer zwangsläufig höhere Steuern. Gerade für Menschen mit weniger und auch durchschnittlich viel Vermögen und Einkommen braucht es eher Entlastungen. Wir müssen aus linker Perspektive klar darin sein, wen genau wir mit Steuern zur Kasse bitten wollen, um keinen Raum für Missverständnisse oder bewusste Fehlinterpretationen zu lassen. Eine solche Klarheit wird nicht allen gefallen. Aber auch das ist linke Politik: Klar zu sagen, für wen man da ist und für wen nicht.

“Wir müssen die Einkommenssteuer vom Kopf auf die Füße stellen”

Reden wir über Verteilungsgerechtigkeit und fangen damit an, was die meisten betrifft: Mit der Einkommenssteuer. Was stellst Du Dir da vor?

In der Einkommensteuer gibt es im Detail eine Menge zu klärende Fragen. Eine ist die überfällige Abschaffung des Ehegattensplitting. Eine andere die Abschaffung des Dienstwagenpriviliegs. Größer gedacht müssen wir die Einkommensteuer meiner Meinung nach jedoch vom Kopf auf die Füße stellen. Wir haben mit dem Prinzip der progressiven Einkommensteuer bereits ein wertvolles Instrument der Umverteilung in der Hand. Nur im aktuellen Tarif sind die Lasten falsch verteilt. Es ist zwar so, dass auf sehr niedrige Einkommen kaum Steuerlast entfällt, aber sobald die Einkommen nur leicht steigen, steigt die Belastung überproportional, während der Spitzensteuersatz wiederum sehr niedrig angesetzt ist. Deshalb werden gerade sehr hohe Einkommen unverhältnismäßig niedrig besteuert. Meiner Meinung nach sollte der Grenzsteuersatz nach Überschreiten des Freibetrags niedrig einsteigen und nur langsam ansteigen, sodass er bei Erreichen des Durchschnittseinkommens nicht mehr als 25% beträgt. Dafür kann der Anstieg im Anschluss steiler verlaufen, bis er beim 20-fachen des Durchschnittseinkommens, also bei ungefähr einem zu versteuernden Einkommen von einer Million Euro im Jahr, den Spitzensteuersatz von 80% erreicht. Das würde für den Großteil der arbeitenden Bevölkerung, also die Vielen, sogar eine steuerliche Entlastung bedeuten. 

Und bei der Erbschaftssteuer? Geht es da um Omas Häuschen? Oder welche Erb*innen würdest Du als Juso-Chef zur Kasse bitten?

Nein, es geht nicht um Omas Häuschen. Hier gilt im Grunde das gleiche wie bei der Einkommensteuer. Aktuell können bereits auf verhältnismäßig kleine Erbschaften hohe Steuern anfallen: Immer dann, wenn den betreffenden Personen die Möglichkeit oder das Know-How fehlt, über Unternehmens- oder Stiftungskonstruktionen das Vermögen nahezu steuerfrei in die nächste Generation zu bringen. Das ist natürlich super ungerecht. Das System muss radikal vereinfacht und verständlicher gestaltet werden. Ich würde sagen, ein Mensch sollte von mir aus in seinem Leben 1 Mio Euro steuerfrei von nahen Angehörigen ererben oder als Geschenk erhalten können. Immobilien, die selbst bewohnt werden, sollten im Prinzip – auch hier braucht es aber Grenzen – ebenfalls von der Erbschaftsteuer befreit werden. Sammelt jemand in seinem Leben jedoch mehr Erbschaften oder Schenkungen ein, dann sollte der Staat konsequent besteuern. Die Besteuerung sollte auch hier progressiv verlaufen. Zur Vereinfachung des Verfahrens könnte man Steuerstufen verwenden, die für alle klar nachvollziehbar sind: Die erste Million über den Freibetrag wird mit 10% besteuert, die zweite mit 20% und so weiter, bis man irgendwann bei 90% für die wirklich hohen Erbschaften und Schenkungen ankommt. Übrigens, Erbschaften über 1 Mio Euro machen nur 2% aller Erbschaften aus, allerdings wird innerhalb dieser 2% ca. ein Drittel des gesamten vererbten Vermögens bewegt. Das zeigt, wie unglaublich krass die Vermögensungleichheit in Deutschland inzwischen ist und wie dringend notwendig es ist, dagegen endlich etwas zu machen.

Zusammengefasst: Für Verteilungsgerechtigkeit auf gesellschaftlicher Ebene kommt es nicht auf die Frage an, ob eine erfolgreiche Kleinunternehmerin ihren Kindern etwas von Wert zu hinterlassen darf, es geht vielmehr um die Frage, ob es sein darf, dass einige Menschen qua Geburt völlig leistungslos zum reichsten Prozent der Bevölkerung gehören, zu einem Geldadel in den andere trotz guter Ausbildung, innovativer Ideen und harter Arbeit niemals aufsteigen können. Die Antwort hierauf ist nein und um das zu erkennen, muss man nicht einmal Sozialist sein – wobei es natürlich immer hilft. Aber dazu reicht eigentlich schon klarer Menschenverstand und kein FDP-Parteibuch.

Die Jusos wollen auch die Vermögenssteuer wieder einführen. Was hat es damit auf sich?

Die Vermögenssteuer ist ein gutes Instrument, um die Kapitalakkumulation bei Spitzenvermögen innerhalb einer Generation zu begrenzen. Allerdings ist durch die gleichmäßige Bewertung von Nicht- Geldvermögen, welche verfassungsrechtlich geboten ist, der Verwaltungsaufwand bei ihr zu hoch, um substantielle Umverteilungseffekte zu erzeugen. Eine Vermögenssteuer wird allein also auf gar keinen Fall die Umverteilungswirkung erzielen, die wir angesichts der extremen Vermögensungleichheit brauchen. Hierfür braucht es die Erbschaftsteuer. Ich könnte mir trotzdem sehr gut eine Vermögensteuer vorstellen, die nach Freibeträgen für selbst bewohnte Immobilien und Unternehmen bei ca. 1% einsteigt und dann auf 3% ansteigt, wenn das Vermögen 50 Mio Euro übersteigt.

“Zunächst einmal sollte man die Mehrwertsteuer abschaffen”

Kommen diese Steuerreformen, steht plötzlich viel mehr Geld für Soziales zur Verfügung. Reden wir also über Umverteilung. Für welche Projekte braucht es mehr Geld?

Zunächst einmal sollte man die Umsatzsteuer, die meisten kennen sie eher unter dem Namen Mehrwertsteuer, abschaffen. Konsum zu besteuern trifft Menschen mit niedrigen und geringen Einkommen aber auch Menschen, die von Sozialleistungen leben viel härter, weil sie anders als Gutverdiener*innen in der Regel ihr gesamtes Einkommen für Konsum ausgeben müssen. Streichen wir diese Steuer, würde das armen Menschen enorm helfen!

Und dann müssen natürlich die Sozialleistungen hoch. Vor allem nach der Inflation der letzten Jahre. Der Regelsatz beim Bürgergeld ist inflationsbereinigt gar nicht besonders viel höher als Hartz IV bei seiner Einführung, der muss substantiell angehoben werden. Der Paritätische fordert 725€ im Regelsatz. Geflüchtete und Menschen mit einem subsidiären Schutzstatus erhalten aktuell noch Leistungen unterhalb des Sozialhilfesatzes, das muss enden. Und natürlich brauchen wir eine Kindergrundsicherung, die den Namen auch verdient und Kinderarmut wirklich effektiv verhindert. 

Du willst mit Industriestrompreis und Transformationsfonds die deutsche Industrie klimaneutral machen. Das kann Arbeitsplätze, oft tariflich gebundene und gut mitbestimmte, kosten. Auch Automatisierung und KI können Jobs überflüssig machen. Droht also ein Verlust von Industriearbeitsplätzen in Deutschland?

Ein Industriestrompreis für energieintensive Branchen wäre wichtig, damit gerade diese Jobs erhalten bleiben! Ob es in Deutschland zu der befürchteten Deindustrialisierung kommt, das ist davon abhängig, ob wir jetzt mutig die politischen Weichenstellungen vornehmen, die es braucht, um eben das zu verhindern. Kurzfristig müssen wir mit Maßnahmen wie dem Industriestrompreis sicherstellen, dass unsere Industrieproduktion im internationalen Wettbewerb bestehen kann, auch beispielsweise im Bereich der Grundstoffherstellung. Neben der arbeitspolitischen hat das übrigens auch eine außenpolitische Dimension: Beim russischen Angriff auf die Ukraine haben wir gesehen, wie schädlich große Abhängigkeiten von autokratischen Ländern sein können. Diese Fehler dürfen wir im Verhältnis zu China nicht wiederholen.

Was die Automatisierung angeht, würde ich zu etwas mehr Optimismus tendieren: Historisch waren alle Prognosen, die aufgrund des technischen Fortschritts vor einem Ende der Arbeit gewarnt haben, falsch. Arbeit wurde vielmehr produktiver, aber nicht weniger. Vielmehr steckt in der Automatisierung auch ein großes Potenzial: Etwa für eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit und eine Stärkung des Systems der gesetzlichen Rente. 

Was sich alles durch KI verändern könnte, würde nochmal ein ganz breites neues Themenspektrum aufmachen. Die Auswirkungen betreffen weit mehr als nur die Industrie. Ich würde mir nicht zutrauen, das jetzt schon abschließend beurteilen zu können, aber ich bin mir sicher, dass staatliche Regulierung des Einsatzes von KI erforderlich sein werden und wir als Verband uns diesen Fragen sehr bald und sehr intensiv annehmen werden müssen.

Was ist deine Idee, damit es auch in vielen Jahren noch gute Industrie-Jobs hier gibt?

Der Schlüssel ist in jedem Fall die Verfügbarkeit günstiger und CO2-neutraler Energie. Das heißt, wir müssen massiv weiter die Erneuerbaren ausbauen. Für große Unternehmen wird insbesondere die Offshore-Stromerzeugung ein wichtige Rolle spielen, für Unternehmen insbesondere im Süden des Landes der zügige Ausbau der Netzinfrastruktur. Dazu kommt das Problem der Energiespeicherung, die umso wichtiger wird, wenn wir mehr erneuerbaren Strom erzeugen. 

Die nächste Herausforderung ist der Aufbau einer Infrastruktur für grünen Wasserstoff für energieintensive Anwendungen. Da werden wir sowohl selbst viel mehr erzeugen müssen, als auch importieren. Das ist aber nur die Hälfte der Miete, der Wasserstoff muss dann auch noch zu den Verbraucher*innen kommen, wofür wahrscheinlich ein eigenes Pipelinenetz aufgebaut oder das bestehende Gasleitungsnetz von Grund auf erneuert werden muss. 

Die Herausforderungen sind also super vielfältig und technisch. Gemeinsam haben sie vor allem eines: Es braucht eine handlungsfähige und schnell agierende öffentliche Hand.

“Der Staat muss gleiche Startchancen für alle schaffen”

Ein weiteres Umverteilungsthema aus deinem Programm ist das sogenannte Grunderbe. Was hat es damit auf sich?

Es geht darum, dass nicht jede Person von zum Beispiel seiner oder ihrer Oma ein Erbe erhalten wird. Es sind im Konkreten viele verschiedene Konzeptionen des Grunderbes denkbar, doch sie alle teilen eine einfache Grundidee: Jeder Mensch hat unabhängig davon, in welchen Umständen er geboren wurde, ein Recht darauf, sein Leben möglichst nach den eigenen Vorstellungen zum Besten zu gestalten. Um das zu gewährleisten, muss der Staat möglichst gerechte Startvoraussetzungen für alle schaffen. So weit, so unstrittig in linken Kreisen. Aus diesem Grund wollen wir einen emanzipierenden und fördernden Sozialstaat, kostenlose Bildung, elternunabhängiges BAföG und vieles mehr. Das Konzept des Grunderbes denkt diese Idee einfach nur weiter und ergänzt den systematisch-kollektiven Sozial- und Wohlfahrtsstaat um ein individuell-emanzipierendes Element, indem es jedem Menschen zum Beginn des Erwachsenenlebens ein Startkapital zur Verfügung stellt. Ergänzt wohlgemerkt. Es geht nicht darum, irgendwelche Sozialleistungen abzuschaffen. Das Grunderbe beantwortet einfach die Frage: Was machen wir mit dem Wohlstand, den die Generationen vor uns gemeinsam erarbeitet haben. Und die Antwort ist so einfach wie meiner Meinung nach einleuchtend: Wir geben einen Teil dem Staat, damit er damit seine Leistungen finanzieren kann und den Rest teilen wir gleichmäßig auf die nächste Generation auf. Thomas Piketty etwa schlägt 120.000€ für alle vor. Das kann beim Start in das eigenständige Leben schon ganz schön helfen. 

Gesellschaftlich betrachtet erzeugt das Grunderbe als ergänzendes Instrument zum Steuer- und Sozialsystem einen enormen Umverteilungseffekt von oben nach unten. Von diesem profitieren insbesondere Bevölkerungsgruppen, die auf Grund verschiedenster Umstände von intergenerativer Vermögensbildung abgeschnitten waren, so z.B. migrantisierte Menschen und Menschen mit ostdeutschem Familienhintergrund.

Aber 10.000€ gleichen doch die krassen Vermögensunterschiede in Deutschland nicht aus. Zwei Familien besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Ist das Grunderbe da nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein?

Richtig, das Grunderbe allein wird die auseinander klaffenden Vermögensunterschiede in Deutschland nicht beseitigen. Zur Wahrheit gehört jedoch, dass das kein Instrument alleine kann. Die Einführung eines Grunderbes würde jedoch die umverteilende Wirkung einer Erbschaftssteuerreform, wie oben dargestellt, durch Synergieeffekte vervielfältigen. Das Besteuern der großen Kapitalakkumulationen ist ja nur die eine Hälfte einer konsequenten Umverteilungspolitik. Nachdem die Vermögen besteuert wurden, müssen die eingenommenen Werte noch gesellschaftlich verteilt werden. Das Grunderbe stellt hier einen Modus dar, der sicherstellt, dass die eingenommenen Werte dort ankommen, wo sie hingehören. Zwar würde zunächst einmal jeder das Grunderbe erhalten, doch wer im Laufe seines Lebens noch weitere Erbschaften erhält und z.B. den Lebensfreibetrag nach dem obigen Modell überschreitet, der muss das Grunderbe zusätzlich zur eigentlichen Erbschaftssteuer zurückzahlen. Das DIW Berlin hat die Wirkung dieses Mechanismus berechnet und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Grunderbe von lediglich 20.000 Euro innerhalb von 30 Jahren dazu führen würde, dass sich das Vermögen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung verdoppelte, während sich das Vermögen der reichsten 0,1% um ein Fünftel verringerte und der Gini-Koefizient um 7% sinkt. Bei einem Grunderbe in Höhe von 120.000€ wie Piketty es vorgeschlagen hat, wären die Effekte noch stärker. 

Da wir bei Dingen sind, die das Grunderbe kann und nicht kann, möchte ich klarstellen, dass das Grunderbe weder die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz für jeden Menschen garantieren, noch alleine sozialen Aufstieg gewährleisten kann. Hierzu bedarf es eines ganzheitlichen Sozial- und Wohlfahrtstaates. Das Grunderbe hat aber einen anderen Vorteil: Es verteilt nicht nur von oben nach unten um, sondern auch von alt zu jung.

Der durchschnittliche Erbe in Deutschland ist weiß, männlich und Mitte 50. Die Empfänger eines zukünftigen Grunderbes kämen aus allen Bevölkerungsteilen, doch sie alle wären junge Menschen. Das Grunderbe wäre vermutlich einer der größten politischen Erfolge für junge Menschen in den letzten Jahrzehnten. 

“Die Stärke der Jusos war immer ihre Glaubwürdigkeit”

Vieles von dem, was du dir politisch vorstellst, wird in einer Koalition mit der FDP für die SPD nicht umsetzbar sein. Hand aufs Herz: Hat die Ampel eine Zukunft über 2025 hinaus?

Naja, nach aktuellen Umfragewerten sieht es nicht gerade gut aus. Die Ampel ist angetreten, eine Fortschrittskoalition zu sein und aktuell wird sie diesem Anspruch nicht gerecht. Es hat zwar einige Fortschritte gegeben, wie etwa die Abschaffung von § 219 a StGB oder die Cannabislegalisierung, aber gerade in den letzten Monaten verfestigt sich der Eindruck, dass sich die Ampel vor allem gegenseitig blockiert und boykottiert. Ganz vorne dabei natürlich die FDP, aber Grüne und SPD müssen sich schon vorwerfen lassen, dass sie das nicht verhindern. Wenn das so weitergeht, sehe ich schwarz für eine zweite Runde für die Ampel.

Olaf Scholz will die Ampel langfristig fortsetzen. Wie muss aus deiner Sicht das Verhältnis von Jusos, Partei und Kanzleramt sein?

Die Stärke der Jusos war immer ihre Glaubwürdigkeit. Wenn etwas schlecht lief, haben wir das genauso offen gesagt wie wenn etwas gut gelaufen ist. Wir sind keine Regierungssprecher*innen der Ampel. Innerhalb der SPD ist es unsere Aufgabe, die Partei wieder stärker zu beleben. Die inhaltliche Auseinandersetzung zu suchen, mit eigenen Vorschlägen zu provozieren und damit neue Positionierungen zu erreichen. Zudem sind wir als Jusos nicht nur eine Parteijugend. Mein Anspruch ist, dass wir als treibende linke Kraft gesamtgesellschaftliche Debatten anstoßen. Den Diskurs wieder nach links verschieben, eigene Themen setzen und rechte Narrative damit zurückdrängen. Das haben die Jusos in der Vergangenheit immer dann am besten geschafft, wenn sie eng mit ihren Bündnispartner*innen zusammengearbeitet haben. Wir nennen das Doppelstrategie. Mit dem einen Bein in Partei und Parlamenten, mit dem anderen auf der Straße und bei den Bewegungen.

Apropos: Warum ist die SPD in der Ampel die am wenigsten sichtbare Partei? Und wie kann Sie das ändern?

Wir müssen raus aus der Moderationsrolle. Wir sind die größte Partei in diesem Bündnis, wir sollten auch einen gewissen inhaltlichen Führungsanspruch haben und uns trauen, eigenständige Positionierungen vorzunehmen und auch durchzusetzen. Wir sind angetreten, die sozialen Probleme der Menschen ernst zu nehmen und zu lösen und haben große Versprechungen gemacht: 400.000 Wohnungen im Jahr bauen, um die Mieten gering zu halten. Wo sind diese Wohnungen? Und wenn es nicht möglich sein sollte, sie zu bauen, dann braucht es andere Maßnahmen, die immer weiter steigenden Mieten zu begrenzen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns praktisch das Go gegeben, einen Mietenstopp bundesrechtlich durchzusetzen. Was lässt uns noch zögern, wenn in Ballungsräumen immer mehr Menschen über 50% ihres Einkommens für die eigene Miete aufwenden müssen.

49 Jusos sitzen für die SPD im Bundestag. Noch-Juso-Chefin Jessica Rosenthal auch. Du bist kein Abgeordneter. Wie verändert das das Verhältnis der Jusos zur Macht?

Durch den Erfolg bei der Bundestagswahl und 49 Jusos hat sich natürlich viel verändert! Wir sind viel näher an der Ausschussarbeit, bekommen mehr mit und bessere Informationen, Jessicas Mitgliedschaft im Bildungsausschuss hat zum Beispiel für uns Jusos und die Gewerkschaften rund um den Kampf für die Ausbildungsgarantie einen großen Wert gehabt. 

Gleichzeitig besteht natürlich die Gefahr, sich ein bisschen im Klein-Klein zu verlieren und den Blick für die großen Linien zu verlieren. Unser Anspruch als Jusos geht ja immer über das Tagespolitische hinaus, als Sozialist*innen kämpfen wir für eine echte Systemveränderung. Für mich habe ich die Entscheidung getroffen, dass ich als Juso-Vorsitzender nicht gleichzeitig im Bundestag sitzen möchte. 

Dazu passend: Die Europawahl steht nächstes Jahr an. Was für eine EU wollen die Jusos?

Das Sterben im Mittelmeer muss enden. Wir wollen keine Festung Europa, die sich abschottet, sondern sichere Fluchtrouten und einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten. Eine ganz entscheidende Frage darüber hinaus ist für mich: Gelingt es uns, glaubhafte Schritte in Richtung einer echten Sozialunion zu machen? Im Kern ist die EU immer noch ein ziemlich neoliberales Projekt, aufgebaut auf den europäischen Grundfreiheiten, die vor allem die Freiheit der Wirtschaft schützen. 

Europa muss näher zu den Menschen. In weiten Teilen Europas ist Jugendarbeitslosigkeit ein großes Problem, dagegen müssen wir gemeinsam vorgehen; mit einer Europäischen Arbeitslosenversicherung könnte man das soziale Absicherungsniveau, das in vielen europäischen Ländern nur rudimentär ist, verbessern und schließlich ist eine europäische Bildungsgarantie ein überzeugender Ansatz, den Gedanken der Ausbildungsgarantie auf die europäische Ebene zu übertragen. 

2019 hatten die Jusos zwei Spitzenkandidat*innen auf aussichtsreichen Listenplätzen bei der SPD. Was sind die Ambitionen dieses Mal? Sollen mehr Jusos ins Europaparlament?

Ja unbedingt! Aktuell haben wir nur ein Mitglied im Juso-Alter im Europaparlament. Delara (Burkhardt, Anm. d. Red.) macht einen hervorragenden Job im Europaparlament. Sie muss einen guten Listenplatz bekommen. Aber das reicht nicht: Wir müssen als Jusos mindestens einen weiteren aussichtsreichen Platz für uns als Verband einfordern. Es wird ja beispielsweise auch eine stellvertretende Juso-Vorsitzende (Manon Luther aus Niedersachsen, Anm. d. Red.) kandidieren, die mit ihrer jahrelangen europapolitischen Arbeit bestimmt eine sehr gute Wahl wäre!

“Zuallererst müsste ich mir eine bezahlbare Wohnung in Berlin suchen”

Juso-Bundesvorsitzender zu werden kann das eigene Leben ganz schön auf den Kopf stellen. Kevin Kühnert wurde quasi über Nacht zum Politik-Star. Was wäre in deinem Leben plötzlich anders, wenn du Chef des SPD-Nachwuchs wärst?

Zuallererst müsste ich mir eine bezahlbare Wohnung in Berlin suchen und das soll ja alles andere als einfach sein. Aber darüber hinaus: So richtig abschätzen kann ich das noch nicht. Ich bin mir aber sicher, dass ich vor allem ein Vorsitzender sein will, der viel bei den Jusos vor Ort ist. In den letzten Jahren habe ich unzählige UBs und KVs besucht, um Seminare zu geben und mit den Jusos vor Ort zu diskutieren. Das will ich genauso weiter beibehalten.

Der kommende Juso-Bundeskongress wird besonders, denn Du bist nicht der einzige Kandidat um den Juso-Vorsitz. Gerade zwei explizit linke, sozialistische Kandidaturen sind bei den Jusos ziemlich ungewöhnlich. Woran liegt das? Streit im Verband oder konstruktiver Wettbewerb der Ideen?

Mein Eindruck ist: Das belebt gerade den Verband und bringt inzwischen ziemlich verkrustete Strukturen dazu aufzubrechen. Meiner Ansicht nach steckt darin eine große Chance für uns, eine Debatte darüber zu führen, wie wir die Jusos ausrichten wollen und ich finde es gut, dass die Delegierten auf dem Bundeskongress die Möglichkeit haben, darüber abzustimmen. 

Ich bin der Überzeugung, dass wir stärker als Jusos die Verteilungsfrage stellen müssen, weil sie ein verbindendes Element zwischen vielen verschiedenen Formen des linken, gesellschaftlichen Aktivismus darstellt. Der Kapitalismus beutet Arbeiter*innen aus, migrantisierte Menschen im besonderen Maße und enteignet Frauen ihrer ohne Bezahlung geleisteten Care-Arbeit. Diese Kämpfe gilt es zu vereinen und damit eine Gegenhegemonie zu den Kulturkämpfen zu schaffen, mit denen Rechte und Konservative häufig erfolgreich die eigentliche Klassenfrage verschleiern. Deshalb möchte ich mit den Jusos wieder verstärkt Verteilungskämpfe führen. 

Auch mit Sarah Mohamed, der zweiten Kandidatin um die Rosenthal-Nachfolge, haben wir gesprochen. Das exklusive Interview mit ihr erscheint am Wochenende hier auf REVOLTE.online.


Geschrieben von: Technik Team

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