Über hundert Tage Streik: Wie ein Windkraftkonzern die Energiewende blockiert

Foto von einer Streikdemo bei Vestas

Vestas ist ein weltweit-tätiger Windradhersteller, auch in Deutschland tätig. Doch das Unternehmen wird seit über 100 Tagen bestreikt. Worum es beim Streik geht und welche Konsequenzen er hat: Eine Kolumne von Jan Bühlbecker.

Heute ist Streiktag 106.

Am 7. November hat der Arbeitskampf bei Vestas im letzten Jahr begonnen, war zwischenzeitlich kurz für Verhandlungen unterbrochen, wurde aber inzwischen wieder aufgenommen. UND NOCH IMMER IST KEINE EINIGUNG IN SICHT!

Vestas? Wohl eher: Ves-soll-das!

Und darum geht es: Vestas beschäftigt in Deutschland weit über hundert Menschen im Windrad-Bau und -Betrieb, doch das dänische Unternehmen unterliegt nicht der Tarifbindung. Das heißt: Allgemeinverbindliche Regelungen zu grundlegenden Arbeitsbedingungen wie Gehalt, Arbeitszeit, Urlaubstagen oder Weihnachtsgeld gibt es nicht.

Hintergrund: In Deutschland gilt die Tarifautonomie. Der Staat gibt also nur Minimalanforderungen an Arbeitsbedingungen vor, ihre konkrete Ausgestaltung ist dann Aufgabe der Tarifvertragsparteien. Das sind die Arbeitgeber*innen – in diesem Fall Vestas – und die Gewerkschaften, hier die IG Metall.

Warum es keinen Tarifvertrag gibt? WEIL VESTAS IHN BLOCKIERT! Das Unternehmen argumentiert, es wolle nicht nicht mit der Gewerkschaft, sondern lieber mit dem Betriebsrat verhandeln. Das Problem: Nur die Tarifvertragsparteien dürfen Tarifverträge verhandeln. Einigen sich Arbeitgeber*in und Betriebsrat auf einen Tarifvertrag, also zum Beispiel auf Entgeltstruktur oder Gehaltserhöhungen, sind diese Regelungen unwirksam. Selbst wenn der Betriebsrat also einen Tarifvertrag mit Vestas aushandeln würde, würde er nicht gelten.

Hintergrund: So funktionieren Tarifverhandlungen

Zurecht! Denn es ist im Interesse der Beschäftigten, dass ihre Gewerkschaft für sie mit dem Unternehmen verhandelt.

Das hat insbesondere zwei Gründe:

Zum einen ist die Gewerkschaft eine unabhängigere Verhandlungspartnerin für das Unternehmen. 

Zum anderen bringen die Gewerkschaften zusätzliche Expertise ein, kennen zum Beispiel die Situation der gesamten Branche und nicht nur die des einzelnen Unternehmens. Das ist wichtig, wenn es zum Beispiel um die Wettbewerbsfähigkeit geht.

Hinzu kommt: Unter den Gewerkschaftsmitgliedern im jeweiligen Unternehmen werden die Mitglieder der sogenannten Verhandlungskommission gewählt. Oft kandidieren auch Betriebsrät*innen. Sie verhandeln dann gemeinsam mit hauptamtlichen Gewerkschafter*innen, also den Branchen- und Tarifverhandlungsexpert*innen von IG Metall und Co., mit den Arbeitgeber*innen.

Kein Streikende in Sicht

Auch die Chef*innen bei Vestas wissen das. Und trotzdem verweigern sie Verhandlungen mit der IG Metall. Aktuell liegt GAR KEIN ANGEBOT vor, über das gesprochen werden könnte. Den Beschäftigten bleibt also KEINE ANDERE WAHL als zu streiken, um Vestas an den Verhandlungstisch zu zwingen. Einen Erzwingungsstreik nennt man das – und der ist durch das Streikrecht im Grundgesetz ausdrücklich geschützt.

Und Vestas? Übt immer mehr Druck auf die Beschäftigten aus: Zuletzt bot das Unternehmen Mitarbeiter*innen, die das Streiken einstellen, sogar Streikbrecher*innenprämien an, also EXTRA-KNETE dafür, dass sie ihre Kolleg*innen allein lassen. Die Reaktion der Kolleg*innen: Sie streiken weiter, bleiben ungebrochen.

Auch aus den dänischen Betriebsstätten will Vestas Arbeitnehmer*innen nach Deutschland schicken, um den Streik zu durchbrechen. Reaktion der dänischen Gewerkschaft: Sie bestreikt Vestas jetzt ebenfalls, ruft ihre Mitglieder auf, nicht für Streikbrecher*innentätigkeiten nach Deutschland zu gehen. INTERNATIONALE SOLIDARITÄT IM ARBEITSKAMPF!

Übrigens unter besonders komplizierten Bedingungen: Denn die Vestas-Mitarbeiter*innen sind im gesamten Bundesgebiet verteilt, treffen sich darum nur zu digitalen Streik-Treffen. Das ist besonders anstrengend, weil das eigentlich übliche persönliche Zusammenkommen Kraft gibt. Und weil das Fehlen von Bildern von großen Demos das mediale Interesse einschränkt. Umso beeindruckender ist es, dass sich zweimal täglich hunderte Kolleg*innen zur Streikkonferenz einwählen!

Vestas verlangsamt Energiewende

Und trotzdem tut der Streik weh. Vor allem natürlich den Beschäftigten, die – obwohl sie von der IG Metall natürlich Streikgeld bekommen – jeden Monat auf viel Geld verzichten, um ihre Forderung nach einem Tarifvertrag durchzusetzen.

Aber auch uns allen! Denn der Windkraft-Ausbau ist EXISTENZIELL für das Gelingen der Energiewende in Deutschland. Und die braucht es, um schnellstmöglich klimaneutral zu werden. Nicht umsonst will Bundeskanzler Olaf Scholz jeden Tag fünf neue Windräder bauen lassen. Auch von Vestas.

Auch darum ist der Vestas-Streik wichtig. Denn Windräder können nur (auf)gebaut werden, wenn genug Fachkräfte bei den entsprechenden Unternehmen arbeiten. Und Fachkräfte gewinnt man nur mit fairen Arbeitsbedingungen. Ein Tarifvertrag ist da das Mindeste! Übrigens: Vestas ist bei weitem nicht die einzige Bad Company in der Branche, die Tarifbindung liegt im Bereich der Erneuerbaren Energien insgesamt nur bei ENTTÄUSCHENDEN 40%.


Die Kolleg*innen bei Vestas streiken also nicht nur für ihre Rechte, sondern für uns alle! Denn jede*r von uns ist darauf angewiesen, dass Deutschland klimaneutral wird.

Wer die Vestas-Beschäftigten dabei unterstützen möchte, kann das tun: Soli-Grüße können per Mail an vestas@igmetall.de geschickt und Spenden für die Streikenden an die IBAN DE23 5005 0000 0000 0010 40 (Kontoinhaberin: IG Metall Bezirk Küste, Betreff: Spende Vestas) überwiesen werden.

Denn 106 Tage Streik, das verdient RESPEKT UND SOLIDARITÄT!


Geschrieben von: Technik Team

Technik Team